Das Erbe

Meine Schritte hallten über das dunkle Parkett und ich nahm einen tiefen Atemzug des mir so vertrauten Mentholduftes, der diese alten Mauern seit je her umspielte. Die inzwischen kahlen, weißen Wände zeugen noch immer von den Spuren alter Gemälde, die sie jahrzehntelang schmückten. Schon morgen würden die Hausräumer kommen und die Reste entsorgen. Wenn es nach meiner Schwester ginge, wären sie schon vor einer Woche hier gewesen.
   Ich erinnere mich noch daran, wie ich zum ersten Mal als Kind in diesen Fluren spielte, und daran, wie sehr es Tante Brunhilde missfallen hatte. Das feine Parkett könnte ja mit meinen Spielzeugautos zerkratzt werden. Ich weiß noch genau, wie sie mit drohendem Zeigefinger über mir stand, immer einen Glimmstängel in der Hand.
   Ehrfürchtig blieb ich vor der Treppe zum Speicher stehen. Und wie damals kroch mir ein kalter Schauer über den Rücken. Als Kind stellte ich mir vor, wie dort allerlei Monster nur darauf warteten, dass ich diese Treppen endlich erklimmen würde. Wie ihre gierigen Finger nach mir griffen, um mich in die Finsternis zu ziehen. Ein dunkler Ort, an dem niemand meine Schreie hören würde. Ohne dass ich es merkte, wurde mein Atem unruhiger.
   Ich blickte hinauf zu der alten Holztür. Klappernd und knarzend wog sie unheilvoll hin und her. Ich schüttelte meinen Kopf, um die alten Fantasien von mir abzuwerfen.
   Meine Schwester musste offenbar ein Fenster dort oben offengelassen haben. Typisch für sie. Als unsere Tante verstarb, war sie die Erste, die sich wie ein tobender Aasgeier über ihre Besitztümer hermachte und alles mitnahm, das sich auch nur ansatzweise zu Geld machen ließe. Ich wusste daher gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, dort hochzugehen. Tante Brunhilde hing dort oben lediglich ihre Bettwäsche auf und auf die war nun wirklich niemand scharf. Doch irgendjemand musste dieses verfluchte Fenster schließen. 
   Ich biss die Zähne zusammen. Stufe um Stufe stieg ich hinauf, während mir mit jedem Schritt immer kälter wurde. Dann stand ich vor der Tür. Ich hielt die Luft an und zögerte, als ein merkwürdiges Summen an mein Ohr drang. Verdammt! Warum zögere ich? Meine Hände ergriffen zitternd den Türknauf und ich schob sie langsam auf. Feine Kieselsteine knarzten unter meinen Schuhen, als ich zum ersten Mal einen Fuß in den Speicher setzte. Seichter Sonnenschein drang durch die Fenster und tauchte diesen Raum in schummriges gelbes Licht. Ein seltsames Gefühl. Ich begab mich zum Dachfenster, schloss es rasch und fuhr vor Schreck zusammen, als der alte Wäscheständer hinter mir plötzlich klappernd zu Boden fiel. Ich fasste mir an die Brust, mein Herz raste. Ich hasste diesen Ort.
   Langsam löste sich der Schreck und ich bemerkte das flackernde Leinentuch in der hintersten Ecke des Raums, zweifellos die Quelle dieses seltsamen Summens. Ich trat mit schweren Schritten näher, entfernte das Tuch und stockte. Eine alte Geige kam darunter zum Vorschein. An ihrem Hals hing ein Zettel: Nicolò Gagliano 1762 stand darauf.
   Ich war nie sonderlich musikalisch, doch etwas sagte mir, dass Tante Brunhilde nicht gewollt hätte, dass ich sie zurücklasse.

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