Das Wunder
D-97.55.D.82-073:
Der Wind fegte über die sandigen Dünen der Wüste und der geschundene Mantel einer jungen Frau peitschte in großen Wellen durch die Luft. Der heiße Sand brannte mit jedem Schritt unter ihren Fußsohlen, während ein bernsteinfarbenes Auge unter dem Schutz der weiten Kapuze hervorlugte und den haiflossenförmigen Marmorfelsen fixierte, der nur noch wenige Meter entfernt vor ihr lag. Noch eine Welt, dann hatte Ginger den mit Diego und Lennerd vereinbarten Treffpunkt erreicht.
Sie trat vor den schneeweißen Fels und betrachtete musternd den Riss zwischen den Welten. Warmes Licht züngelte wie Millionen kleiner Blitze durch den Übergang und ließen bereits vermuten, was sich auf der anderen Seite gerade abspielte. Ginger zog ihr Na-Vi aus der Tasche, prüfte ihre Position und fluchte, als sie feststellen musste, dass alle anderen Wege zum vereinbarten Treffpunkt hoffnungslos übertriebene Umwege waren. Einen genervten Atemzug später verstaute sie ihr Na-Vi, holte Schwung und sprang durch den Übergang.
D-96.87.I.73.911:
Explosionen erschütterten die Erde! Dreck, Schlamm und winzige Trümmer wurden durch die Bombeneinschläge in die Luft geschleudert! Gewehrschüsse fielen einige Straßen entfernt in dieser zerklüfteten und von einem offenbar unerbittlichen Krieg geschundenen Stadt. Es wurde geschrien, Menschen rannten, brachten sich in Deckung und Ginger stand mit nur einem Schritt mittendrin.
»Fuck!« Sie rannte, schlug Haken, um nicht vom Kugelhagel der streitenden Parteien erwischt zu werden, und stürzte bei der nächsten Straßenecke in einen beschissenen Graben! Erde spuckend rappelte sie sich wieder hoch und bemerkte drei Männer, die offenbar um das Überleben eines verwundeten Kameraden kämpften.
Einer von ihnen blickte auf und sah das weiße, sternenförmige Symbol auf dem Rücken der jungen Frau, die gerade in den Graben fiel. »Sie da! Sind sie der Sanitäter? Gott sei Dank! Unser Sargent wurde von einer Granate getroffen! S-sein Bein! T-tun sie etwas.«
»Scheiße.« Ginger zögerte, während unnachlässig Kugeln über ihre Köpfe hinwegfegten und nickte schließlich. »Okay, macht Platz da und lasst mich mal sehen, was ich tun kann.« Sie schob die Männer beiseite und schaute in das überraschend ruhige Gesicht des Verletzten. Ein zweiter Blick in seine regungslosen Pupillen folgte. »Er steht unter Schock. Das muss der Blutverlust sein. Warum habt ihr keine Kompresse angelegt?«
»Hey, Sani, sieht es so aus, als würden wir hier diesen Luxus bieten können?«, raunte einer der Männer.
Der zweite Soldat lud sein Gewehr nach und machte sich bereit, das Feuer zu erwidern. »Bitte, versuchen sie ihn zu retten. Er hat einen Sohn, den er dank des Krieges noch nie zu Gesicht bekommen hat.« Der Mann lugte aus der Deckung und feuerte mehrere Salven in verschiedene Richtungen.
Ginger untersuchte das verletzte Bein und schaute zu dessen Besitzer auf. »Können Sie mich verstehen?« Er nickte stumm. »Gut, ich werde ihre Wunde jetzt ausbrennen. Das wird schmerzhaft. Kauen Sie deshalb eines davon.« Sie griff an einen unscheinbaren Lederbeutel ihres Gürtels, holte einige Blätter hervor und legte sie ihm in die Hand. »Das ist Ashallakraut. Es betäubt ihr Schmerzempfinden.«
»Sie kommen immer näher! Wir sitzen in der Falle!«, schrie der dritte Soldat panisch und sank nur eine Sekunde später leblos und mit einer Kugel in seinem Helm in den Schutz des Grabens zurück.
Die Hände der jungen Frau packten die Wunde klaffende Wunde, der Patient schrie auf und steckte sich vor lauter Verzweiflung das Kraut in den Mund. »Okay, bereit?«
Von dem Patienten war nur ein leises Wimmern zu hören, während die beiden übrigen Soldaten tapfer den Graben verteidigten. Dann spürte er wie etwas auf seinem Bein erst warm und dann immer heißer wurde. Kalter Schweiß perlte von seinem Gesicht. Er prustete und knurrte gegen den brennenden Schmerz an, bis es plötzlich wieder nachließ.
Ginger hob die Hände von der Wunde und kontrollierte ihr Werk. »Sie werden es überstehen«, erklärte sie dann, als sie die Abdrücke ihrer zu heiß gewordenen Handflächen auf dem Bein des Mannes betrachtete.
»Meine Munition ist alle!«, brüllte einer der Männer. »Wir müssen den Sargent in die sichere Zone bringen!«
»Wo ist die?«, erkundigte sich Ginger.
»Häh? Das wissen Sie doch. Der Schutzbunker, drei Straßen nordöstlich von hier.« Der Soldat lehnte sich vor und betrachtete die junge Sanitäterin mit wachsender Skepsis. »Zu welcher Einheit gehören Sie?«
Ginger bemerkte, wie er sein Gewehr fester umklammerte. »Special Forces«, rutschte es ihr als Notlüge heraus. »Wollen Sie hier nun heile raus oder nicht?«
Die Männer zögerten, beschlossen aber die Antwort der jungen Frau nicht weiter zu hinterfragen und nickten stattdessen brav.
»Gut! Ihr habt wahnsinniges Glück. Ich muss zufällig in dieselbe Richtung.« Sie zeigte auf den kräftigeren der beiden unverletzten Männer. »Sie da, nehmen Sie ihren Sargent auf die Schulter. Ich gehe voraus und gebe euch Deckung. Sobald ich euch ein Zeichen gebe, lauft ihr los.«
»W-warum sollten wir Ihnen trauen.«
»Weil ihr alle längst tot wärt, wenn ich es wollte.« Ginger lehnte mit dem Rücken gegen die Wand des Grabens und wartete, bis die beiden Männer so weit waren. Wenige Augenblicke später streckte Ginger ihre Finger, um jede noch so kleine Veränderung in der Luft zu spüren. Dann stieg sie mit einem Satz aus dem Schützengraben, hob ihre Hände in Richtung der Angreifer und rief: »Los!«
Die beiden Soldaten erhoben sich mit ihrem Sargent im Gepäck und panikverzerrten Gesichtern aus dem Graben und rannten, so schnell es ihre Verfassung und die zerklüftete Stadt zuließen. Ginger blieb dicht hinter ihnen.
Der kleinere der beiden Soldaten beobachtete, wie unzählige Einschusslöcher um sie herum entstanden, doch wie durch ein Wunder, fand nicht ein Projektil seinen Weg durch sie hindurch. Es war, als seien sie unantastbar, für die feindlichen Projektile.
Noch eine Straße. Die schweren Türen des Schutzbunkers waren schon zum Greifen nahe. Doch dann ertönten die Sirenen und erneut fielen Bomben auf die Stadt. Die Druckwelle einer Explosion katapultierte die drei Männer nach vorn, sodass sie direkt vor den schützenden Toren des Bunkers landeten. Sie klopften und hämmerten gegen die Pforte, bis endlich jemand aufmachte und sie in Sicherheit waren.
Der Kleinere keuchte vor Atemnot und sank auf den Hosenboden. »D-der Sani! W-wo ist der Sani?«
D-95.41.N.11-003:
Weil dem weißen Kaninchen in blauen Hosen vor lauter Warterei langweilig war, zog er es vor, kleine Moßbällchen von dem bewachsenen Stein auf dem er saß zu formen und sie auf mit einer selbstgebastelten Steinschleuder auf den Kimono des Drachen zu feuern. »Wie lange warten noch, bis wir feststellen, dass deine seltsame Freundin nicht kommt?«
Diego funkelte das Kaninchen scharf an. »Letzte Warnung, Lennerd, triffst du nur noch einmal, zündet Diego den Wald an.«
»Lass das besser bleiben«, ertönte eine Frauenstimme und trat aus dem Gestrüpp. »Die Natur hat dir schließlich nichts getan, sondern die Hasenscharte mit Zwille.«
Diego lächelte und öffnete beherzt die Arme zur Begrüßung. Sie schaute irritiert, rollte mit den Augen und nahm schließlich doch die Einladung zur Umarmung an. »Was hat dich so lange aufgehalten?«
Die junge Frau löste sich aus der Umarmung. »Kinder, die Krieg spielen. Nichts Wichtiges. Wollen wir dann? Wir haben schließlich eine Mission zu erfüllen.«