Der Weltenschlüssel


Malaysia. Der dichte Dschungel ächzte unter der brachialen Hitze der Sonne. Bachwasser spritzte auf, als die Stiefel eines jungen Mannes hindurch rannten. Eine Horde fluchender Söldner war ihm dicht auf den Fersen. Zugegeben, sie hatten allen Grund zum Fluchen, nachdem der Jungspund sie wenige Minuten zuvor so dreist beklaut hatte.
   Trevor Joyce Lungen brannten vor Erschöpfung. Doch er durfte jetzt nicht schlapp machen. Ein flüchtiger Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es gleich so weit war. Gleich stand die Sonne im Zenit und er würde die Passage ins Innere des Tempels für wenige Augenblicke öffnen können. Trevor bog nach rechts. Sprintete durch das dichte Gestrüpp und hinaus auf die Lichtung vor dem Tempel. Sein Blick verharrte ungeduldig auf der goldenen Spitze des imposanten Bauwerks. »Komm schon! Wo bleibst du?!« Trevor vernahm die Stimmen der Söldner, sie waren gleich bei ihm. Dann war es so weit. Die Sonne berührte die Tempelspitze. Hastig versenkte Trevor das goldene Sonnenrad aus seiner Hand in die dafür vorgesehene Ausbuchtung und drehte es nach links. Augenblicklich begann der Boden unter seinen Stiefeln zu zittern. Gewehrkugeln zischten knapp an seinem Kopf vorbei und schlugen in die Mauer vor ihm ein. Dann gab der Boden mit einem Ruck nach und zog Trevor in die Tiefe.
   Er rutschte die scheinbar bodenlose Schräge hinab und wurde immer schneller. Erst stemmte Trevor seine Stiefel gegen die Seitenwände, um seine Rutschpartie zu bremsen, doch dann vernahm er von oben immer dichter kommenden Donner und entschied, dass Bremsen vermutlich nicht die klügste Idee sein könnte. Noch bevor er es realisierte, purzelte Trevor ins Innere einer dunklen Kammer. Kurz darauf folgte ein letzter, dumpfer Donner, direkt vor seinen Stiefeln. Obwohl er wusste, was eben geschah, tastete er unbeholfen nach seiner Beintasche. Er holte ein Knicklicht hervor und brach das gläserne Plättchen, das die beiden fluoreszierenden Chemikalien voneinander trennten. Seine Hand fuhr über die massive, in grünes Licht getauchte Steinwand, wo eben noch ein Tunnel hinab führte. »Verdammt!«
   »Na, sitzt du hier auch fest?«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm.
Trevor fuhr erschrocken herum und suchte nach der Quelle der Stimme. An den Ecken der vier Wände waren jeweils halbrunde Käfige aus Gold angebracht. Sie waren alle offen und erweckten einen beunruhigend einladenden Eindruck. Fast, als warteten die engen Eckgefängnisse nur darauf, dass sich jemand freiwillig hineinbegeben würde und fortan zwischen kaltem Stein und goldener Dekadenz festsaß. Dann erblickte Trevor schließlich an einer der vier Wände dieser Todesfalle ein junges Mädchen. Es saß dort, kopfüber, die Beine entlang der Wand ausgestreckt und beobachtete, mit auf dem Bauch gefalteten Händen, die Symbole und Muster an der Decke. Trevors Einschätzung nach war sie vielleicht sechzehn, allerhöchstens siebzehn. »Was zum...?! Kannst du mir vielleicht verraten, wie du hier hineingelangt bist?«, murrte Trevor missgelaunt.
    »Klar«, antwortete das rothaarige Mädchen lapidar.
   Es vergingen einige Augenblicke erwartungsvollen Schweigens, dann seufzte Trevor resigniert. »Okay, ich frage anders: Wirst du mir verraten, wie du hier unten gelandet bist?«
   Das rothaarige Mädchen runzelte irritiert die Stirn. »Äh – , nein!«
   »Pfft! Dann halt nicht!« Trevor rümpfte die Nase und begann damit die Symbole und Einkerbungen an den Wänden des Raums zu untersuchen. Kein leichtes Unterfangen, da diese Göre unentwegt klickklock Geräusche mit der Zunge schnalzte und dazu passend im Takt mit ihren schweren Kampfstiefeln hin und her wippte. Trevor versuchte, sich zu konzentrieren, doch jedes Mal, wenn er meinte eine Passage der Inschriften verstanden zu haben – klickklock! »Was – tust du da?!«, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
   Die Rothaarige blickte auf und rieb sich ihr linkes Auge. »Zeit totschlagen. Und du?«
   »Einen Ausweg suchen!« Trevor verharrte kurz. »Einen der nicht beinhaltet von Derek Moresk und seinen Schlägern da oben, aufgegabelt zu werden.«
   Die Rothaarige gähnte. »Na dann, streng dich mal an.«
   Trevor entfachte ein weiteres Knicklicht und warf es auf den runden Kreis in der Mitte des Raums zu Boden. »Sehr witzig. Lass mich raten, deine kleinen Freunde haben dich hier ausgesetzt? Würde mich bei dieser charmanten Art jedenfalls nicht wundern«, murmelte er zuletzt in sich hinein und widmete sich erneut den Inschriften der Wand. Seine Finger fuhren nur wenig später über eine weitere Passage. Trevor stockte. »Offenbar ist das hier eine von sieben verschiedenen Kammern. Diese ist die Kammer des Lebens. Wer bereit ist, Leben zu schenken, der öffnet den Weg in das Reich des Sonnenkönigs.«
   Das Mädchen blickte teilnahmslos zu ihm auf. »Aha. Kurze Frage: Redest du gerne mit dir selbst?«
   Trevor starrte das Mädchen in ihren Hotpants und diesem viel zu großen, dunklen Hoodie an. Er trat näher, wippte mit seinen Stiefeln prüfend gegen ihren Kopf und atmete erleichtert aus.
   Das Mädchen kräuselte missmutig ihre dunklen Lippen. »Hey! Gehts noch?« Sie ließ ihre Beine nach vorn hinunterfallen, landete auf den Knien und rappelte sich Dreck abklopfend auf. »Kammer des Lebens. Bist du sicher?«
   Trevor nickte. »Ja, wieso?«
   »Ich dachte ehrlich, dass das die Kammer der Geduld ist. Tja, peinlich.« Das Mädchen fuhr zu Trevor herum und streckte ihm verlegen die Zunge entgegen. »Ich sags nicht gern, aber wenn ich dein Gelaber richtig verstehe, wird hier nur einer von uns beiden lebendig herauskommen. Sehr schade. Ich wollte dich gerade nach deinem Namen fragen und dir eine Freundschaftsanfrage über ähm – Myspace? Ist das noch aktuell bei euch? Ach, ist ja auch egal«, wehrte sie mit wedelnden Händen ab.
   Trevor grinste dreckig und zog eine schwarze neun Millimeter, der Marke Smith and Wesson, aus dem Holster an seinem Gürtel. »Da hast du wohl recht. Aber der Höflichkeit halber: Mein Name lautet Trevor, Trevor Joyce. Und jetzt sei so freundlich und begib dich in einer der Käfige.«
   Das Mädchen hob ruhig die Hände. »Willst du denn gar nicht wissen, wie ich heiße?«
Trevor spannte genüsslich den Hahn seiner Pistole. »Kleines, das ist mir scheißegal. Rein in den Käfig.«
   »Ist ja schon gut. Rüpel!« Sie trat rückwärts in eine der Ecken und zog die Käfigtür so dicht wie möglich an sich heran. »Hey, Trevor Joyce, ich will dich ja nicht unnötig beunruhigen, aber dieser Käfig hat kein Schloss. Vielleicht probiere ich doch besser einen anderen, was meinst du?«
   Trevor wedelte mahnend mit seiner Pistole. »Schlösser sind nur notwendig, wenn du beabsichtigst, etwas freizulassen. Na los, zuziehen, bis der Mechanismus einrastet.«
   Das Mädchen schluckte den künstlichen Kloß in ihrem Hals hinunter und tat, was Trevor verlangte. Ein deutliches Klacken ertönte dichtgefolgt von etwas, das nach einem Kettenzugmechanismus klang und endete mit einem dumpfen Schlaggeräusch. Die Finger der rothaarigen fuhren prüfend über die goldenen Gitterstäbe. Zwecklos. Sie saß fest. »Und nun?«, fragte sie mit unschuldiger Miene.
   Trevor trat vorsichtig an sie heran und überprüfte den Käfig. Er lächelte zufrieden, drehte sich um und verschloss nacheinander die Anderen. Bei jedem einzelnen Käfig ertönte erst das Klacken, gefolgt von der Mechanik und zuletzt das dumpfe Schlaggeräusch. Ohne auf ihre Frage zu antworten, trat er in die Mitte des Raums, auf den großen, runden Kreis. Ein weiterer Mechanismus wurde in Gang gesetzt. Die Wände teilten sich neben den Käfigen. Trevor funkelte das Mädchen mit kühler Überlegenheit an und winkte ihr freundlich lächelnd, als die Käfige langsam nach hinten in die Dunkelheit gezogen wurden.
Doch Trevor stoppte mit beim Winken. Und plötzlich fiel ihm das dumme Grinsen aus dem Gesicht. Die Käfige wurden nicht nach hinten gezogen. Es waren die Wände, die näher kamen! Sie teilten sich in immer schmalere Blöcke und hörten nicht auf näher zu kommen! Trevor fuhr zunehmend schneller atmend umher. Egal wohin er blickte, es gab keinen Ausweg für ihn. Verzweifelt presste er seine Arme gegen die Wand vor ihm und stemmte sich mit aller Gewalt, Wut und Galle spuckend dagegen.
   Das rothaarige Mädchen lehnte lässig an den Gittern ihres Gefängnisses und glaubte noch einen entfernten Schrei, gefolgt von mehrfachen, dumpfen Knacken gehört zu haben, kurz bevor der Mechanismus letztendlich zum Stillstand kam. »Trottel«, schnaubte Luna kaltschnäuzig. Nach einigen Momenten vernahm ihre feine Nase neben der abgestandenen Luft dieser Kammern eine Note Eisen. Zweifellos Blut. Es vermengte sich mit einer anderen, ihr vom Geruch unbekannten Flüssigkeit, die das Blut blau leuchten ließ. Nach und nach wurde die Schatzkammer in wunderschönes, blauschimmerndes Licht getaucht. Als die Flüssigkeit die Treppe zum Thron erreichte, klackte es erneut und ihr Käfig öffnete sich.
»Wer hätte gedacht, dass sich Geduld mal auszahlt?« Luna hüpfte in einem Satz in die Freiheit und salutierte Richtung Trevors Überreste. »Danke, Trevor Joyce.« Der Staub unter ihren Stiefeln knirschte, als sie auf dem Absatz kehrtmachte. Ihr Blick schwankte suchend zwischen Bergen aus Gold, erhabenen Statuen ehemals wichtiger Persönlichkeiten, kunstvollen Vasen und faustgroßen Edelsteinen umher. Am Ende der Kammer, hoch oben auf dem Thron, fand sie schließlich, wonach sie suchte. Luna kräuselte missmutig ihre dunklen Lippen. »Fuck! Hätte ich mir ja denken können.«
   Vorsichtig schoben ihre Stiefel Münzen und Kelche beiseite, während sie sich entschlossen dem Thron und seines Besitzers nährte. Ausgezehrt und dem Leben nicht ferner, saß der einstige Herrscher dort. Leere Augenhöhlen starrten regungslos auf Luna und dem Berg aus goldenen Schätzen und Edelsteinen hinab.
»Bitte bleib tot. Bitte bleib tot«, säuselte Luna immer wieder in sich hinein und erklomm die letzten, der insgesamt zweiundfünfzig Stufen, zum Thron. Sie atmete tief ein, hielt die Luft und streckte zögerlich ihre Finger nach der Halskette des Königs aus. Luna wagte es nicht, ihren Blick von dem fahlen Gesicht des ausgetrockneten Leichnams abzuwenden. Ihre Hand schloss sich mit Samtpfoten um den jadegrünen Schlüssel an der Halskette. Luna kniff kurz die Augen zu und zog ihn mit einem sanften Ruck ab. Ein kleiner Schwall Luft und ein riesiger Berg Anspannung verließen ihre Lungen. Sie betrachtete das unscheinbare Objekt in ihrer Hand. »So klein, so viel Ärger.«
   Im Augenwinkel vernahm Luna noch wie kleine, blauschimmernde Adern den Hals ihres Gegenübers emporstiegen. Plötzlich neigte sich der Kopf des Königs kreischend nach vorn! Luna erschrak. Machte einen Satz nach hinten, verlor den Halt und stürzte.
Die Welt vor ihren Augen begann zu flimmern also kniff Luna sie zu und biss ihre Zähne zusammen. Gleich würde ihr Kopf einen dumpfen Aufprall spüren und kurz danach würde der Schmerz einsetzen. Daran gab es keinen Zweifel und sie hasste es schon jetzt. Was gäbe sie darum, jetzt auf einer buntgeschmückten Blumenwiese, ganz weit weg von all diesem Scheiß zu sein? Eine Menge, so viel war sicher. Doch als Luna endlich aufschlug, blieb der Schmerz überraschenderweise aus. Stattdessen hörte sie Vögel singen. Richtige, echte Vögel.
   Blinzelnd öffnete sie ihre von warmen Sonnenstrahlen gepeitschten Augen. Eine sanfte Brise umspielte ihre Wangen. Der Duft von Flieder und Mohn lag in der Luft. Luna rappelte ihren Oberkörper auf. »What the ...?! Eine Blumenwiese?« Sie hob den jadegrünen Schlüssel und ließ ihn verheißungsvoll in der Sonne glitzern. »Wow! Also deshalb nennt man dich Weltenschlüssel.«

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