Familie verbindet


Schneewehen trieben durch die einsamen Straßen eines nächtlichen Industrieviertels. Die verschneiten Wege waren beinahe völlig verlassen. Bis auf einen alten Lastkraftwagenfahrer, der unter dem schummrigen Licht einer Laterne tiefe Furchen durch den feinen Pulverschnee zog. Er schloss den Reißverschluss seiner roten Daunenjacke, stockte irritiert und zog den langen, weißen Rauschebart aus dem Kragen hervor. Seine rechte Hand strich nur wenige Meter entfernt über das kalte, silbrige Blech seines Frachtraums und ein sanftes Lächeln stahl sich auf seine spröden Lippen, bevor er schließlich vor die Tür seiner Fahrerkabine trat. Räuspernd durchsuchte er die Taschen seiner Jacke nach dem Schlüssel, als seine von der Kälte gepeinigten Ohren aus einer der Seitenstraßen Stimmen hörten. Der alte Mann schaute sich um und legte misstrauisch den Kopf schräg.
   Eine junge, attraktive Blondine in einem grünen, viel zu knappen Cocktailkleid und lächerlich hohen Highheels betrat zähneklappernd die Straße und hatte offenbar alle Mühe, sich in diesen Schuhen auf den Beinen zu halten.
   »B-b-bist du sicher, dass wir hier richtig sind, Honey Bunny? H-h-hier s-s-sieht irgendwie nichts n-n-nach Party aus.« Die Blondine fluchte innerlich. Ihre Zehen waren schon seit Minuten völlig taub. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen? Sie versprach sich in Zukunft vorsichtiger mit den Worten: Alles, was du willst, umzugehen und im Zweifelsfall deutlich mehr Geld die Stunde zu verlangen.
   »Klar bin ich sicher. Es ist gleich da vorn«, lallte das kleine, pelzige etwas auf ihrer Schulter und deutete mit der Flasche Whiskey in seinen Pfoten auf ein Gebäude mit der Aufschrift Easter Corp nebst einem Nest bunt bemalter Eier, das offenbar das Firmenlogo darstellte.
   Die Frau im Cocktailkleid zog etwas unbeholfen und wackelig an dem alten Trucker vorbei. Dieser wurde plötzlich, mit Ausnahme seiner roten Wangen, kreide bleich und presste sich erschrocken gegen die Tür der Fahrerkabine. Er rieb sich die Augen und sah noch einmal hin. Kein Zweifel. Auf ihrer Schulter saß ein Kaninchen. Ein weißes, sprechendes Kaninchen in einer Hose. Und es hatte eine Whiskeyflasche in der Hand. Mit zitternden Händen suchte er nach dem Griff seiner Tür, verschwand sofort in seine sichere Fahrerkabine und verriegelte auf der Stelle das gesamte Fahrzeug.
   Die junge Frau schwenkte nach links über die Straße und hielt direkt auf das Firmengelände zu. Lampen brannten durch die Oberlichter der Lagerhallen. Den Geräuschen nach zu urteilen, herrschte reges Treiben im Inneren. Die Augen der jungen Frau verengten sie zu kleinen Schlitzen und umso dichter sie kamen, desto kleiner und enger wurden ihre Augen. »H-H-Honey Bunny, b-b-bist du sicher, d-dass hier eine Weihnachtsparty gefeiert wird? K-Klingt irgendwie nicht nach Party dadrinnen. M-m-mehr so, a-als würde da jemand arbeiten.«
   Das rosa Näschen des Kaninchens bebte unruhig hin und her. Abschätzig betrachtete der kleine Racker die Lagerhalle, schnaubte und leerte den Rest seiner Flasche. Ein ungeniertes Rülpsen entwich seinem winzigen Magen. »Kleines, du hast ja keine Ahnung. Mein Cousin sechsten Grades mag ein Arbeitstier sein, aber seine Weihnachtspartys sind legendär. Sowas hast du noch nie zuvor gesehen. Versprochen.«
   Die junge Frau blickte zu ihrem ungewöhnlichen Kunden, der lässig auf ihrer Schulter saß. Er hatte Recht. So etwas wie ihn hatte sie schließlich auch noch nie gesehen. Wenn sie das später den anderen Mädchen erzählen würde, sie würden ihr sicher kein Wort glauben. Warum auch? Sie konnte es ja selbst kaum glauben, als sie plötzlich von einem sprechenden Kaninchen an ihrem Fenster angesprochen wurde. Sie wünschte nur, sich etwas mehr angezogen zu haben, statt direkt wie eine irre nach draußen zu rennen. Aber sie wollte nicht riskieren, dass Tiffany schneller war und ihr eventuell das coolste Ding, das ihr jemals untergekommen war, vor der Nase wegschnappte.
   Das Kaninchen tastete unbeholfen mit seinen Hinterläufen ihre Brust entlang, rutschte langsam an ihrem Kleid hinunter und verschwand, mit seinen knapp fünfzig Zentimetern, in einem Satz bis zu den Schultern im Schnee. »Fuck!«, fluchte er und tapste mühsam durch den Schnee, bis zur Eingangstür der Lagerhalle. Der winzige Löffelträger zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, blickte nach links, dann nach rechts. »Hmm, kein Türsteher, keine langen schlangen vor dem Eingang, keine fetzige Mucke. Hat Fredward in diesem Jahr etwa eine andere Location gewählt?« Das Kaninchen hielt kurz inne und schüttelte anschließend den pelzigen Kopf. »Nein, das hätte er seinem Lieblingscousin doch sicherlich erzählt.«
   Die schicke Blondine rieb sich die kalten Schultern und trat immer wieder von einem aufs andere Bein. »I-ist alles okay, Honey Bunny? M-mir ist echt kalt, weißt du.«
   Die Ohren des Kaninchens fuhren herum. »Häh? Ja, klar. Alles in bester Ordnung. Mach dir nur keinen Stress. Geht gleich weiter.« Er blickte zu der Klingel hoch oben an der Tür, trat an die Wand und streckte seine pelzigen Pfoten danach aus. Nach dem dritten Anlauf, einem Tritt gegen die Tür und diversen Flüchen bezüglich bescheuerter Klingelknopfhöhen, betätigte seine Begleitung den Knopf.
   Es dauerte einen Moment und ein hagerer Mann in seinen späten Sechzigern öffnete. »Ja, bitte?« Er trug sein graues, schütteres Haar zu einem gepflegten Seitenscheitel und einen dazu passenden Frack in Schwarz.
   »Hey, Alfred! Na, alles fit im alten Schritt? Was macht Batman so?«, scherzte das Kaninchen.
   Alfreds Blick wandte sich von der Blondine ab und hinunter zu seinen Füßen. »Ah, Meister Lampe, was wollen sie denn hier?«
   Die Löffel des Kaninchens zuckten aufgeregt hin und her. »Na, was denkst du denn?« Dann gab er seiner Begleitung ein Handzeichen und schlüpfte zwischen den Beinen des alten Dieners hindurch.
   Alfred schüttelte den Kopf und betrachtete erneut die junge Frau. »Und Sie sind?«
   »Rose, Rose Montgomery. Angenehm.« Sie zögerte kurz und als der alte Mann nicht zur Seite trat, begab sie sich auf die Knie und folgte ihrem Kunden auf die gleiche Weise ins Innere, wie er es tat.
   Der Klang von hydraulischen Maschinen, Fließbändern und fleißigen Händen erfüllte den langen Flur. Rose spürte, wie langsam wieder Leben in ihre kalten Gliedmaßen floss, als sie die vergleichsweise warme Halle betrat. Sie schaute sich nichts ahnend um und stoppte abrupt. Ihre blauen Augen wurden riesig und sie wagte kaum zu atmen. Kaninchen und Hasen in allen Formen und Farben flitzten durch diese Hallen. Manche groß, manche klein. Manche in Kleidung, andere nicht. Und alle waren sie tüchtig mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt.
  Vorsichtig fühlte Rose ihren Puls und wankte. Konnte das wirklich die Möglichkeit sein? 
Ihr kaninchenhafter Kunde stand nur wenige Meter entfernt vor einem knallgelben Geländer, untersuchte den leeren Inhalt seiner Flasche nach einem letzten Tropfen und zerdepperte sie auf dem Boden, als er nicht fündig wurde. 
Rose trat zu ihm. »Alles okay, Honey Bunny?«
   »Jetzt guck dir diese Scheiße an!«, fluchte Lampe wild gestikulierend. »Die arbeiten alle! Warum zur Hölle arbeiten die alle?! Wo ist Party?!«
   »Lennerd, gut, dass du auch endlich da bist«, ertönte eine dominante, jedoch wohlklingende Stimme von links.
   Rose fuhr herum und ihre Augen blieben ungläubig auf einen großgewachsenen, grauen Hasen, in einem dunklen, maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug haften. Er kam in Begleitung einiger kleinerer Hasenwesen auf die beiden zu. Rose beobachtete, wie ihm immer wieder Papiere zum Unterschreiben unter die rosa Nase gehalten wurden. Die junge Frau zögerte. »S-s-sie sind ...«
   Der graue Haase rollte mit den Augen. »Ja, höchstpersönlich. Beruhigen sie sich, okay. Das ist nicht so besonders, wie immer alle meinen.« Er nickte einem seiner Assistenten zu und sogleich wurde Rose eine Handvoll Papiere entgegengehalten.
   Sie runzelte die Stirn. »Eine Verschwiegenheitsvereinbarung? Ihr Ernst?«
   »Bitte – einfach unterschreiben, ja? Nun zu dir.« Er beugte sich zu dem weißen Kaninchen hinunter. »Bist du etwa betrunken?«
   Lennerd kletterte mit der Absicht, auf Augenhöhe mit seinem Cousin zu sein, das knallgelbe Geländer hinauf. Jetzt reichte er Fredward etwa bis zur Brust. Besser als nichts. Lennerds pelzige Pfoten schnipsten provokant gegen Fredwards feinen Nadelstreifenanzug. »Hey! Wo ist die Party, du feiner Pinkel?«
   Rose hob vorsichtig den Finger. »Entschuldigung. Sie beide sind verwandt? Wie geht denn das?«
   Fredward schnalzte abfällig. »Lennerd ist adoptiert. Das sieht man doch. Lassen Sie mich raten, Sie sind einer dieser Damen, die man für spezielle – sagen wir Dienste bezahlt, richtig?« Rose nickte verlegen. »Hätte ich mir ja denken können.« Er wandte sich Lennerd zu. »Jedes Jahr das gleiche mit dir. Und du wunderst dich, warum du das schwarze Schaf der Familie bist.«
   Lennerd verschränkte die Arme vor der Brust und verzog das Gesicht, so gut er konnte, zu einer grimmigen Fratze. »Tzz! Ich kann gern wieder verschwinden, Cousin!«
   Fredward hob abschätzig die Nase. »Unglücklicherweise sind wir auf jede Hilfe angewiesen, Cousin. Wir erleben gerade eine nie dagewesene Krise. In sechszehn verschiedenen Welten verlieren die Menschen das Interesse an unseren Produkten. Das ist ein Desaster! Wir müssen etwas unternehmen, wenn wir nicht aus dem Geschäft gedrängt werden wollen. Verstehst du das?«
   Rose hob erneut zögerlich ihren Finger. »Verzeihung. Aber kaufen Eltern ihren Kindern nicht eh die Sachen selbst?«
   Fredward lächelte. »Und was glauben Sie, wer die Geschäfte mit den entsprechenden Artikeln beliefert?«
   Rose tippte mit ihrem Zeigefinger auf ihre Unterlippe und ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Es dauerte einen Moment, bis ihr etwas Entscheidendes auffiel: Nicht alle Produktionsbänder schienen dieselben Artikel zu produzieren. Sie würde sogar behaupten, dass sie manche Artikel, wie den dreiohrigen Schokohasen oder das bemalte Huhn, noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Finger sauste erneut nach oben und unterbrach abermals die Diskussion der ungleichen Cousins. »Verzeihung. Tut mir wirklich leid, wenn ich nochmal störe, aber bekommen alle das Gleiche?«
   Fredward rieb sich genervt die Augen. »Selbstverständlich nicht! Die Artikel sind alle auf die jeweiligen Vorlieben und Varianten des Osterfestes in den jeweiligen Welten abgestimmt. Lennerd, warum hast du sie nur hierher gebracht?«
   Rose Stirn legte sich in Falten. »Dann tauscht doch einfach mal die Produkte durch. Das bringt sicher frischen Wind in die Sache.«
   Fredward wollte gerade zu einer weiteren schnippischen Bemerkung ansetzen, da stoppte er plötzlich, als hätte jemand auf Pause gedrückt. Nur hin und wieder zuckte sein linkes Ohr, als würde sein Hirn auf Hochtouren laufen. Sein Blick wanderte zu Lennerd, dann zu Rose, anschließend zu den Fabrikarbeitern, wieder zu Lennerd und dann zu Rose. »Wie viel verdienen Sie in ihrem aktuellen Job?«
   Rose riss die Augen auf und blinzelte hastig. »Ehm, also, je nach Kundenwu...«
   »Ist auch egal«, fuhr der Hase dazwischen, »Ich verdopple es und Sie arbeiten ab sofort für mich. Haben wir einen Deal?« Er reichte Rose die pelzige Pfote.
   Ein unbewusster Impuls ließ ihre Hand nach vorn schnellen und auf das Angebot einschlagen. »Huch! War ich zu schnell? Verzeihen Sie. Dann ist es also beschlossen?«
   Fredward nickte und ließ direkt einen Assistenten für die Unterzeichnung der entsprechenden Papiere kommen.
   Kaum hatte Rose unterschrieben, grinste Lennerd dreckig. »Kann die Party dann endlich steigen, oder was? Ich werde nämlich langsam wieder nüchtern, Cousin.«

   Der Hase seufzte resigniert. »Unverbesserlich!« Er räusperte sich auffällig laut, hob die Pfoten und nach wenigen Augenblicken kam auch der letzte Mitarbeiter zum Stillstand und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Hasen im Nadelstreifenanzug. »Frohe Weihnachten, euch allen und lasst die Feierlichkeiten beginnen!«

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