Regdoll
Das Letzte voran Prinzessin Penélope sich erinnerte, war der Schock, als ihre kleinen Rippen unter der Gewalt des Drachen brachen und sich in ihre Lungen gebohrt hatten. Innerlich verfluchte Penélope sich dafür, dem verdammten Mistvieh nicht einfach ihren Dolch ins Auge gerammt zu haben, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Dann kam Dunkelheit über sie und Penélope wusste, dass es vorbei war.
Nur ein Wimpernschlag verstrich und die kleine Prinzessin saß samt eingedrücktem Brustkorb und Blut beflecktem Kleid in einem pechschwarzen Ledersessel, inmitten eines für sie ganz und gar ungewöhnlichen Ortes. Vorsichtig neigte sie den Kopf. Hinter ihr befanden sich weitere Ledermöbel um einen glattpolierten gläsernen Tisch und dahinter eine ebenso gläserne Tür. Ungläubig blinzelnd las sie dessen Inschrift. Luis Cifer – Vorstandsvorsitzender der Kanzlei Fallen and Heart. Stirnrunzelnd zog ihre Aufmerksamkeit weiter. Die Wände des Raumes schmückten bis unter die Decke reichende, dunkle Regale mit Unmengen von Büchern. Jedes für sich sah schrecklich langweilig aus, dachte Penélope. Trotz des meist dunklen Mobiliars wirkte der Raum jedoch einladend groß und hell, was nicht zuletzt an den magischen Lichtern der Decke liegen musste, redete sie sich ein. Ein Räuspern bediente sich Penélopes Aufmerksamkeit und sorgte dafür, dass sie wieder nach vorn blickte. Vor ihr befand sich ein ebenholzfarbener Schreibtisch, an dessen anderem Ende ein gepflegt wirkender Mann mittleren Alters in einer Akte vertieft war.
Penélope hielt sich blinzelnd eine Hand vors Gesicht. Noch nie hatte sie eine solch saubergearbeitete und große Glasscheibe gesehen und fast hätte sie nicht einmal bemerkt, dass es eine war, wenn sie sich nicht sachte darin gespiegelt hätte.
»Hallo?«, gab Penélope schüchtern von sich. »M-Mister?« Ein künstliches Schluchzen überwältigte sie. »Wo bin ich hier?« Sie schaute an sich hinunter und stockte. »O Gott. Mein hübsches Kleid ist ganz schmutzig geworden. Mister, i-ich glaube, mir ist etwas ganz Schreckliches passiert«, wimmerte die kindliche Prinzessin weiter. »Können sie mir helfen?«
Die stahlblauen, alles durchdringenden Augen des Mannes blickten langsam und kühl von der Akte auf und zu ihr hinab, dann legte er die Akte beiseite und die gefalteten Hände auf dem Tisch ab. »Penélope Sturmherz, aus dem Hause Rurindai. Selbstverständlich werden wir von Fallen and Heart Ihnen helfen. Dazu sind wir schließlich da.« Der Mann lächelte charmant und warmherzig.
Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, wie Penélope ihn von einigen Bediensteten ihres Schlosses kannte, nur deutlich eleganter. Sein Haar war kräftig, dunkelbraun sowie etwas mehr als schulterlang. Selbst seine feinen Gesichtszüge ließen keinen Platz für den geringsten Makel. Penélope konnte es nicht besser beschreiben, doch der Mann vor ihr hatte etwas unnatürliches. Sie kannte niemanden, der so gut aussah, wie er es tat, und das jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Schluchzend rieb sie sich die Augen. »Das ist so schön zu hören. I-ich wollte nur ganz weit weg von zuhause, weil mein Papa so böse war. Doch dann hat mich aus dem Nichts dieses Ungeheuer erwischt. Können Sie sich das vorstellen? Sehen Sie doch nur.« Sie tippte auf einen ihrer aus dem Brustkorb herausragenden Rippen und schüttelte sich. »Das ist sicher nicht gesund und hübsch aussehen tut es obendrein auch nicht.«
»Sie sind etwas aufgewühlt«, sagte Cifer mit einem Hauch von Güte in seiner Stimme. »Keine Sorge, das sind alle Seelen, die hierherkommen.«
Ihre großen, unschuldig wirkenden Augen blickten verunsichert zu dem charmanten Schönling in seinem feinen Anzug auf. »Sind sie sicher?«
Cifer lächelte abermals warmherzig. »Absolut. Sie sind an dem einzigen Ort, der neue Chancen vergeben kann. Hier wird entschieden, ob eine Seele weiterziehen darf, ob sie dasselbe Leben noch einmal leben muss«, Cifer hielt kurz inne und dachte über die passende Wahl seiner folgenden Worte nach, »meist, weil die Seele noch eine Lektion erlernen muss, bevor es weitergehen kann, oder ob sie geläutert werden muss. In dem Fall komme ich ganz bescheiden ins Spiel«, sagte er, während ihm für den Bruchteil einer Sekunde ein ganz und gar nicht charmantes Lächeln über die Lippen huschte, bevor er wieder die Kontenance gefasst hatte.
Penélope schlug die Hände vors Gesicht und weinte. »Warum passiert mir das? Ich habe doch nichts Schlimmes angestellt. Ich will doch nur weg von zuhause. Ganz weit weg. Wo mich mein Papa niemals finden kann«, wimmerte sie kläglich.
Cifer legte den Kopf schräg, die Miene voller künstlichem Verständnis für die arme Seele vor ihm. »Shht! Ich weiß, ich weiß. Ich kenne ihre Akte, Miss Sturmherz aus dem Hause Rurindai. Sie hatten einen bösen Zwist mit ihrem Herrn Vater und nun wissen sie nicht mehr wohin, stimmts?«
Penélope fing sich etwas, schluchzte noch einmal zur Betonung ihrer Verletzlichkeit und nickte. »Papa hat mich nicht mehr so lieb wie früher, wissen Sie.« Ein schweres Schlucken entwich ihrer Kehler. »I-ich fürchte, er würde mir schlimme Dinge antun, wenn er mich findet. Bitte, lieber Onkel Cifer, machen Sie, dass mein Papa mich nicht finden kann.«
Cifer wippte in seinem Stuhl gelassen nach links und rechts, während er das augenscheinlich kleine und hilflose Mädchen nicht aus den Augen ließ. »Keine Sorge, Sie bekommen, was sie verdienen. Dafür ist unsere Kanzlei sozusagen bekannt.«
Penélope lächelte erleichtert. »W-wirklich? Oh, danke. Ich weiß gar nicht, womit ich Ihre Fürsorge verdient habe, Onkel Cifer. Ich darf doch Onkel Cifer sagen, oder?«
Cifers Augen blickten kühl auf sie hinab. »Sicher doch.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute für einen Moment aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch. »Es ist nur – wissen Sie, wenn man erst einmal so alt ist, wie ich es bin, wird einem eines klar: Davonlaufen hat noch niemals jemandem geholfen.« Er drehte sich wieder zu ihr um, beugte sich leicht vor und lächelte abermals freundlich. »Aber was rede ich? Sie sind ja auch vom alten Eisen, nicht wahr? Einhundertelf. Wow! Dabei sehen Sie wirklich keinen Tag älter als zehn, vielleicht elf, aus. Wie machen Sie das nur, Miss Sturmherz?«, Cifer schüttelte verwundert den Kopf, nahm noch einmal die Akte auf seinem Tisch zur Hand und warf einen Blick hinein, als müsste er wirklich nach der Antwort suchen. »Ah ja, da haben wir es ja. Ihre Mutter war eine Elfe. Das erklärt es.« Er legte die Akte wieder beiseite und schaute ungewohnt ernst.
Die kleinen Finger der Prinzessin krallten sich geradezu in den Rock ihres fliederfarbenen Kleids. Sie atmete schwer und wagte es nicht, den Mann hinter dem Schreibtisch ins Gesicht zu schauen. »Bitte – tun Sie das nicht.«
»Ihre Mutter hat Sie aus tiefstem Herzen geliebt, nicht wahr?«
Penélope zitterte. »Nicht!«
Cifer hob das Kinn und schmunzelte amüsiert. »Dieselbe Mutter, die Sie auf so grauenvolle Weise sterben ließen. Welches Kind wäre zu so etwas nur fähig?« Er zögerte den Moment in künstlicher Erwartung. »Sie haben ihre Mutter wegen ihres Elfenblutes gehasst, nicht wahr?«
Penélope wurde blass, biss sich auf die Unterlippe und schwieg, während ihre Finger sich immer tiefer in den Rock ihres Kleides gruben.
»Elfenkinder werden mitunter sechshundert Jahre alt, bevor sie die Schwelle, zur Reife erreichen, wussten Sie das? Keine Ahnung, ob das auch auf ein Halbblut wie Sie zutrifft, aber ich bin sicher, es muss grausam gewesen sein, all Ihre Spielkameradinnen wachsen und erblühen zu sehen, während Ihnen dieses geschenkt verwehrt blieb.« Sein Blick verharrte auf der flachen Brust des Kindes. »Irgendwann sah auch Ihr Vater diese jungen Frauen mit ganz anderen Augen – und Sie wollten, dass er Sie genauso ansah – aber das tat er nie, nicht wahr?«
Stille Tränen liefen die Wange des Mädchens entlang. Ihr Atem wurde ruhiger.
Cifer lehnte sich in seinen Stuhl zurück, verharrte einen Moment und ließ die Wucht seiner Worte wirken. »Aber wen für das Gefühl der Leere und fehlenden Liebe bestrafen? Papa?« Cifer rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wohl eher nicht. Immerhin ist er der König. Aber – all die jungen und schönen Frauen, die ihm so sehr gefallen, das ging, nicht wahr, Miss Sturmherz?«
Penélope zuckte zusammen. Nackte Angst stand in ihren zarten Gesichtszügen. »Hören Sie bitte auf«, flehte sie.
Cifer lächelte. »Aber warum denn? Sie haben zeit ihres Lebens gefoltert, verstümmelt und grausam gemordet, alles damit ihr Vater nur noch Augen für Sie haben würde, stimmts? Doch genutzt hat es Ihnen nichts. Ganz egal wie viele junge, unschuldige Frauen Sie geschlachtet hatten.«
Wo gerade noch Angst regierte, zog überraschend schnell blinder Zorn ein. Penélope ballte die kleinen Fäuste, blickte auf und funkelte Cifer bedrohlich an. »Du elender Hurensohn! Was denkst du eigentlich, mit wem du hier sprichst? Ich habe mit nicht einmal zwölf Jahren schon überhebliche Versager wie dich für weit weniger aufs Grausamste hinrichten lassen!« Penélope sprang von ihrem Sessel auf, um Cifer an die Kehle zu springen, da hob er die Hand und die Zeit blieb für die kleine Prinzessin stehen.
Er lächelte sanft und streckte mahnend den linken Zeigefinger in die Höhe. »Aber aber, Liebes, wer wird denn gleich so zornig sein? Ich erfülle Ihnen Ihren sehnlichsten Wunsch. Ihr Vater wird nur noch Augen für Sie haben, mein Wort darauf.«
Und Penélopes Welt wurde auf einen Schlag wieder dunkel.
Von irgendwoher drangen dumpfe Klänge in der Ferne an ihre Ohren. Zu weit entfernt und zu verzerrt, um sie richtig zuordnen zu können. Nur langsam formten sich die fremdartigen Geräusche zu etwas, das Penélope vertraut vorkam. Es waren Stimmen und sie unterhielten sich.
König Bartholomäus betrachtete den aufgebahrten Kopf seines einstigen Freundes Achimboldo und spuckte darauf. »Schleppt den geschundenen Leichnam meines Kindes für aller Augen sichtbar durchs Land und schuldigt meine geliebte Tochter an, solch grausame Dinge zu tun. Nichts anderes als den Tod hast du verdient und selbst der ist noch zu gut für dich!«, schrie er den leblosen Kopf an.
»Eure Majestät«, krächzte die Stimme eines hageren Zausels hinter einem Mundschutz hervor. Der Kittel, den er trug, hatte längst seine besten Tage erlebt und er war stolz darauf. Denn all das ranzige Blut und die anderen Sekrete darauf waren Zeichen seiner unglaublich guten Arbeit als Chirurg und Präparator. »I-ich glaube, ich bin fertig. Viele ihrer Organe waren leider zerquetscht und mussten ersetzt werden, aber die Schläuche und Apparaturen werden ihren Dienst tun. Die Konservierungstinktur in ihren Venen hat ihren körperlichen Verfall ebenfalls erfolgreich gestoppt. Dennoch«, der Arzt zögerte einen Moment abwägend, während er das aufgedunsene und von Unzufriedenheit gezeichnete Gesicht des Königs musterte. »Ihre Tochter wird nie wieder die Alte werden, fürchte ich. Der Schock ihres plötzlichen Todes scheint ihren Geist traumatisiert zu haben. Sie ist bestenfalls eine hübsch anzusehende Puppe, die für die Ewigkeit konversiert wurde. Nicht ganz Tod, aber sicher auch nicht ganz lebendig.«
Bartholomäus beugte den fetten Bauch und blickte in die glanz- und reglosen Augen seines geliebten Kindes. »Das soll genug sein. Bringt sie in mein Schlafgemach. Ich will, dass sie fortan immer bei mir ist.«
Penélope wollte protestieren, sich wehren, schreien und um sich schlagen, doch das Fenster zur Außenwelt war so schrecklich weitentfernt. Wie ein fremdartiger Zuschauer betrachtete sie die Szene, unfähig etwas zu unternehmen. Penélope wimmerte, weinte und kreischte in ihrer Verzweiflung. Ein Schrei, der die Welt der Lebenden niemals erreichen wird.