The Wicked Files
Es war ein außergewöhnlich heißer Sommer in England. Einer, wie es ihn viele Jahre nicht gab. Der Rotor des alten Deckenventilators röhrte immer wieder in unregelmäßigen Abständen auf. Seine Wirkung ließ in dem stickigen Verhörzimmer der Polizeiwache in New Hampshire bei fast vierzig Grad Außentemperatur ohnehin zu wünschen übrig.
Eine geschlagene Stunde saß Augusta Pallington jetzt schon mit Handschellen an diesen Tisch gekettet. Sie blickte auf ihre knöchernen, mit Rheuma und Gicht versetzten Hände und hustete schwer. »Junger Mann, bitte seien sie doch so freundlich und lösen diese albernen Handschellen. Meine Handgelenke sind schon ganz wund. Das alte Eisen tut meiner Haut nicht sonderlich gut, wissen Sie. Ich laufe auch bestimmt nicht weg«, witzelte die alte Dame mit einem flehenden Unterton.
Wortlos saß ihr Detektiv Logen mit auf dem Tisch gelehnten Ellenbogen gegenüber, während seine rehbraunen Augen die alte Dame intensiv zu mustern schienen. Ihr freundliches Gesicht zierte unter der blassen, faltigen Haut ein zartes Rosa. Es unterstrich das matte grau-grün ihrer Augen und passte hervorragend zu ihrem fliederfarbenen Glockenhut mit seinen dekorativen Stecknadeln und Federn. Wenn Logan wirklich auf sie achten würde, hätte er glatt den Eindruck gewonnen, dass Miss Pallington eine wirklich nette alte Dame mit schon beinahe charismatischer Altersschusseligkeit wäre. Doch das tat er nicht. Stattdessen beachtete Logan vielmehr die Zeiger der großen Uhr hinter Miss Pallington. Viertel vor neun. Noch fünfzehn Minuten, bis zu seinem offiziellen Schichtbeginn.
Detektiv Logans Hand fuhr über die dichten Bartstoppeln seines Kinns, während das weiße Designerhemd über seinem Rücken spannte. »Warum genau empfinden Sie das Gefühl von Eisen auf ihrer Haut als unangenehm, Miss Pallington?«
Die alte Dame schmunzelte zögerlich. »Weil es brennt.«
»Richtig. Ich erinnere mich. Sie sagten aus, dass sie eine Hexe seien und Eisen ihre magischen Fähigkeiten unterdrücken würde, so wie alles andere neumoderne Zeug, das mit Dingen gefertigt wurde, die aus der Erde gewonnen wurden.« Detektiv Logan verharrte einen mit gesunder Skepsis verhangenen Moment. »Was selbstverständlich auch der Grund dafür ist, dass sie uns keines ihrer Kunststücke vorführen können.«
Eine dreckige Lache entwich der alten Dame und zerstörte das zuvor gewonnene Bild der netten Vorstadtrentnerin. »Sie sind ein Zweifler, das sind sie alle. Bis man sie vom Gegenteil überzeugt.«
Logans Miene blieb unbeeindruckt starr. Er setzte sich aufrechter hin und verwies mit einer kaum merklichen Bewegung seines Kinns auf die Fotos der sechsunddreißig Kinder, die auf dem Tisch verteilt lagen. »Nochmal. Warum haben Sie sie umgebracht?«
Ein breites Grinsen stahl sich auf die schmalen Lippen der alten Lady. Sie beugte vor, betrachtete die Bilder und riss an den Schellen, während ihre dürren Finger blitzschnell auf das erste Bild deuteten. Ein korpulenter Junge im roten Pullover. Billy Tyler Jr. stand auf dem Rand unter dem Bild. »Den da, weil seine Schenkel so saftig aussahen«, lechzte Augusta freudig und fuhr mit ihren Fingern zum nächsten Bild. »Dorian Housewood«, entwich es ihr mit einer solchen Freude in der Stimme, dass es einem kalt den Rücken runter lief. »Er hatte so tolles rosiges Fleisch. Himmlisch zart, war es.« Dann fuhr sie zu einem dritten Bild. Zwei blonden Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, die Grimes Zwillinge. »Diese beiden, weil ich wissen wollte, ob sie gleich schmecken.« Die alte Dame blickte freundlich lächelnd zum Detektiv auf. »Wollen Sie wissen, ob es so war? Die Antwort könnte Sie überraschen, Detektiv.«
Logans Blicke fixierten ihre vor Freude leuchtenden Augen. »Ich sags nicht gern, aber das macht Sie bestenfalls zu einer psychisch labilen Kannibalin, nicht zu einer Hogwartsschülerin«, entwich es ihm trocken.
Augusta Pallington schnaubte belustigt. »Haben Sie sich jemals gefragt, warum die Hexe in Grimms Hänsel und Gretel Kinder frisst?«
Logan hob ahnungslos die Finger ein Stück weit vom Tisch und verzog passend dazu das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir.«
»Jugend, ist das Zauberwort. Sie wollte die Jugend und die Lebenskraft der kleinen Scheißer.« Augusta lehnte sich zurück und knurrte leicht auf, als sie erneut das Ende ihrer Bewegungsfreiheit innerhalb der Handschellen bemerkte. »Wir Hexen beziehen über das Fleisch der Sterblichen unsere Lebensenergie. Kapieren sie das nicht? Je jünger das Leben ist, desto mehr Jahre gehen an uns über.«
Logan runzelte die Stirn. »Sie schauen nicht sonderlich oft in den Spiegel, oder? Da ist nichts, das nach Jugend oder Kraft aussieht. Wenn Sie eine Hexe sind, wie erklären Sie sich das?«
Augusta zögerte verunsichert. Ohne dass sie es bemerkte, sah der Detektiv das nervöse Umherfahren ihrer Augen, bis sie einige Momente später ihre Gedanken augenscheinlich wieder sortiert hatte. »Ich spare mir die gespeicherte Kraft auf, bevor ich sie verwende«, antwortete die alte Dame wenig überzeugend.
Der Detektiv lehnte sich herausfordernd vor. »Sechsunddreißig Leben? Wofür?«
Augusta blickte schwankend von den Bildern der Kinder auf und direkt in die rehbraunen Augen des jungen Mannes. »Weil er nur unsere Welt betreten kann, wenn ich stark genug bin.«
»Wer?«
»Der Eine, der über uns alle richten wird. Luzifer persönlich«, entwich es ihr zuletzt mit Schaudern in ihrer Stimme.
»Luzifer?«, entwich es Logan verwundert. »Das ergibt keinen Sinn«, murmelte er anschließend an sich selbst gewandt. Der kräftige Rücken des Detektivs stützte sich gegen die Stuhllehne. Grübelnd überkreuzte er seine Arme sowie auch die Beine und verwies auf das alte Buch, das zusammen mit weiteren Beweismitteln auf einem Tisch an der Wand des Verhörzimmers lag. »Also gut, letzte Frage: Woher haben Sie dieses Kochbuch?«
Augusta folgte seinem Blick bis zu dem in menschliche Haut gebundenen Einband des besagten Buches. »I-ich hab es geschrieben. Hab ich doch, oder? Mein Gott, auf meine alten Tage bin wohl doch etwas tüdelig geworden, Detektiv«, entwich es ihr mit einem charmanten Lächeln. »Jetzt weiß ich auch wieder, wann ich es geschrie...«
»Ich muss Sie an dieser Stelle direkt unterbrechen«, entfuhr es Logan plötzlich mit ernster Miene. »Sie haben es nicht geschrieben. Aber da meine Zeit kostbar ist und mit Verlaub langsam etwas knapp wird, helfe ich Ihnen auf die Sprünge.« Logan schielte über den Hut der Dame. Noch fünf Minuten vor neun. »Dieses Buch gehört in der Tat einer Hexe, aber das sind nicht Sie, Miss Pallington.« Der Mann lehnte sich vor, bis seine Ellenbogen wieder auf dem Tisch Platz nahmen. »Was Ihnen widerfahren ist, wird Leihgabe der Verurteilten genannt. Ein simpler und sehr wirkungsvoller Fluch, der von der Zaubergesellschaft während der großen Hexeninquisition erdacht wurde. Die begünstigte Person erhält Zugriff auf Erinnerungen und einen gewissen Anteil an magisch anmutenden Fähigkeiten, die an den Verleiher zurückgehen, sobald das Urteil vollstreckt wurde. Das gibt der magischen Person genug Zeit, um unerkannt zu entkommen.« Detektiv Logan las in dem zunehmend verunsicherten Gesicht der alten Dame und lächelte charmant. »Keine Sorge, wir Leben in modernen Zeiten. Folglich bleibt Ihnen die Todesstrafe erspart. Daher wurde über die Jahrhunderte auch dieser Fluch verbessert und angepasst. Sie haben das Brennen auf Ihrer Haut bemerkt. Sie sehen: Eine Verhaftung reicht heute schon aus, um die Leihgabe zu verlieren.« Er reichte der verwirrten Dame Stift und Zettel, danach drückte Logan beherzt ihre Hände. »Sie werden schon sehr bald jede Erinnerung daran verloren haben. Seien Sie daher so gut und schreiben Sie auf, woher Sie dieses Buch haben. Das wird uns helfen die wahre Mörderin zu finden.«
Mit zitternden Fingern ergriff Augusta Stift und Zettel, während ihr das Wasser in den Augen stand. Kurz darauf reichte Sie beides zurück an den Detektiv. »Werde ich ins Gefängnis müssen, Detektiv?«
»Danke.« Logan steckte Zettel und Stift in die Brusttasche seines Hemdes und schielte erneut hinüber zu den Zeigern der Uhr. »Keine Sorge, Miss Pallington, ich verstehe, dass das alles verwirrend sein muss.« Logan presste die Lippen zusammen und betrachtete die am ganzen Leib zitternde Dame mit Sorge. »Wissen Sie was? Ich hole Ihnen erst einmal einen beruhigenden Tee. Dann besprechen wir alles Weitere.« Logan lächelte, erhob sich und verließ das Verhörzimmer gerade rechtzeitig, als der echte Detektiv Logan den Korridor zu den Verhörräumen betrat. Ohne zu zögern, wischte das Double über die Sigille am Handgelenk, woraufhin diese kurz bläulich aufleuchtete.
Wie jeden Morgen zu Schichtbeginn nippte Detektiv Logan an einer großen Tasse Earl Grey Tee, tief Schwarz und wie immer viel zu heiß. Nachdem er sich zum dritten Mal an diesem Morgen verbrannt hatte, pustete Logan mit grämendem Gesichtszügen über den Rand der Tasse blickend und stoppte verdutzt beim Anblick der jungen Frau im Flur, die seine Kleider trug. »Aurelia? Was machst du denn hier? Du hast heute doch gar keinen Dienst.«
Verlegen kämmte sie sich eine ihrer rabenschwarzen Strähnen aus dem Gesicht und zog das für ihre schmalen Schultern viel zu große Hemd zurück an seinen Platz. »Ich weiß. Ich habe meine Schlüssel bei dir vergessen und komme nicht mehr in meine Wohnung. Dani sagte, dass du heute früh hier unten bist und das Verhör von Miss Pallington führst.«
Logan trat näher, legte einen Arm um ihre Hüfte und küsste sie. »Richtig. Die durchgeknallte Irre, die an Hexerei glaubt. Freu mich schon richtig. Das erklärt aber nicht, warum du meine Sachen trägst?«
Aurelia verzog das Gesicht und kniff in seine Wange. »Schon die letzte Nacht vergessen? Von meinem Kleid ist nicht mehr viel übrig, Mister ich kann nicht länger warten.« Fordernd hielt sie die Hand auf. »Die Schlüssel bitte. Wir wollen doch nicht, dass mich noch einer unserer Kollegen so sieht und das Tratschen anfängt.«
Verschmitzt lächelnd klopften seine Hände eine Tasche nach der anderen ab, bis er fündig wurde und sie in die wartende Hand seiner jungen Partnerin fallen ließ. »Sehen wir uns heute Abend?«
Aurelia zog an ihm vorbei, verpasste Logan einen Klaps auf den Hintern und schaute noch einmal lasziv grinsend zurück. »Wohl eher nicht. Muss heute noch eine alte Freundin besuchen, könnte spät werden. Dir noch viel Spaß mit deiner Serienkillerin.«
Logan ließ die breiten Schultern hängen, während er seiner Partnerin dabei zu sah, wie sie um die nächste Ecke verschwand. »Danke«, hauchte er missmutig. Er nahm einen tiefen Atemzug, setzte sein Pokerface auf um sich sein Desinteresse an dummen Geschwafel über Zauberei und Märchenfiguren nicht anmerken zu lassen und ergriff den Türknauf. »Miss Pallington, es stimmt was man sagt, nicht wahr? Je oller, desto doller«, begrüße er die Rentnerin. »Aber gleich sechsunddreißig Kinder? Dachten Sie wirklich, dass wir Sie nicht überführen würden?«