Kapitel 3: Flucht

Stephanie Grimes machte sich gut im Ultimate Gears. Stacy Schneeschuppe konnte am Ende auch Lazlo Schneepfote davon überzeugen, dass sie eine wahre Bereicherung für ihr kleines Geschäft war.

Stephanie händigte einem Oktopoden ein passendes Exoskelett für Landbesuche aus und erhielt im Gegenzug den vereinbarten Bottich zellesitscher Tinte, auf den ein anderer Kunde schon sehnsüchtig wartete. Während sie einem Zwergargus, bei dem Stephanie nicht mal wusste, in welches seiner unzähligen Augen sie blicken sollte, den bestellten Salzleckstein überreichte, dachte sie darüber nach, ob die Namensähnlichkeit ihrer beider Arbeitgeber einen tieferen Hintergrund hatte. Sie waren zumindest schon mal kein Paar, das wusste Stephanie. Und auch, dass sie nicht miteinander verwandt oder verschwägert waren, zumindest hoffte sie das. Kopfschüttelnd versuchte sie die Vorstellung, dass die beiden doch über mehrere Ecken verwandt sein könnten, so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Stacy fluchte nun schon zum dritten Mal zähneknirschend über ihre Bestelllisten brütend und Stephanie beschlich langsam das Gefühl, dass es nicht mit fehlender Ware oder schwierigen Besorgungen zu tun hatte.

»Ist alles okay?« Stephanie maß ganz nebenbei eine Maus und überreichte ihr anschließend einem beinahe maßgeschneiderten roten Wams nebst Hut mit Feder und Degen. »Sehen sie, das ist wie für sie gemacht Herr Clustine.« Die Ohren der Maus zuckten auf und sie fiepte aufgeregt etwas vor sich hin, dass Stephanie erschrocken aufzucken ließ. Jack-Jack kroch mit tiefroter Farbe aus ihrem ebenholzfarbenen sowie in aller Regel glatten Haarnest hervor und gluckerte drohend zurück.

»Miss Clustine!«, murrte die weißgeschuppte Echsendame in ihre Unterlagen vertieft vor sich hin. Stacy saß dazu meist auf einem Hocker vor einem alten Mahagonitisch zwischen Teeküche und Kasse. Den Laden dabei immer mit mindestens einem Auge im Blick.

»Oh, ja natürlich. Verzeihen sie mir, Miss Clustine. Jetzt sehe ich es selbstverständlich auch. Ich Dummerchen.« Stephanie drückte mit einem Finger das kleine Eidechsenkerlchen in ihr Haar zurück, holte ihren Handspiegel unter dem Tresen hervor und gab der Mäusedame die Möglichkeit, sich von allen Seiten ausgiebig zu betrachten. Ihr Näschen bebte voller Neugierde. Sie beschnupperte die glatte Oberfläche des glänzenden Objektes und die fremde Maus in dessen Inneren. Dann zückte sie voller Verdruss ihren neuen Degen und wollte gerade zum Todesstoß ansetzen, da verstaute Stephanie den Spiegel auch schon wieder. »Sind sie zufrieden?«

Miss Clustine sah sich irritiert um und verstand nicht, wohin die andere Maus so plötzlich verschwand, dann wandt sie sich Stephanie zu, vollführte eine tiefe Verbeugung und sprang von der Theke in Richtung des Ausganges.

»Also«, holte Stephanie erneut an Stacy gewandt aus, »mögen Sie darüber reden?«

Die Echsendame seufzte. »Hast du etwas von Diego und den anderen gehört? Er reagiert gar nicht mehr auf meine Nachrichten. Das ist ungewöhnlich für ihn.«
Stephanie betrachtete die Motus Tulpia auf dem sonnigen Simms hinter dem Tresen, ihre farben ermatteten mit jedem Tag, der verstrich und zeugten unverblümt, von Stacys Sorge um ihren erwählten.

»Leider nein. Haben Sie denn mal seine Position auf dem Na-Vi überprüft?« Auch sie machte sich zunehmend Sorgen um Ginger und die anderen. Zuletzt wollten sie einer wichtigen Sache nachgehen. Stephanie hörte davon, dass sie offenbar ordentlich Radau im Handcrafted Mastermind machten und anschließend zu Gilligans Turm aufgebrochen sind, von da an hatte sie keiner mehr gesehen. Das lag nun schon zwei Wochen zurück und Stephanie wusste nicht, ob sie ihr eigenes Na-Vi schlicht nicht richtig bedienen konnte oder es einen anderen Grund dafür gab, dass sie Gingers Signal nicht finden konnte.

Die Glöckchen der Ladentür bimmelten hektisch auf, als ein kristalliner Mann – vor Erschöpfung keuchend – das Geschäft betrat.

»Willkommen im Ultimate Gears, werter Reisender. Was darf es denn heute sein?«, begrüßte ihn Stephanie mit einem vor Sympathie nur so strotzendem Lächeln.

Ohne sie zu beachten, räumte der Kunde eilig eine Handvoll diverser Waren in seine Tasche und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

»Hey!«, brüllte Stacy ihm noch hinterher, als schon die nächsten ihr Geschäft stürmten, um selbiges zu tun. »Verflucht nochmal! Ihr dreckigen Diebe!« Noch bevor Stacy richtig reagieren konnte, versperrte Lazlo ihnen bereits mit einem roten Powerball zwischen den Zähnen den Weg. »Rau! Stehenbleiben oder Staubfressen, eure Entscheidung!«

Weder die Sensenträgerin, noch der vornehm gekleidete Vielfraß oder die Schlammfrau wagten es, sich weiter zu rühren und legten die Waren ganz langsam wieder an ihren Platz zurück. Sie wussten, dass es keine besonders kluge Idee wäre, das listenreiche Schattenfell herauszufordern. Eine Info, die Heberticus, ein kräftig gebauter und von sich überzeugter Minotaurus, offenbar fehlte.

Abschätzig blickte er zu dem winzigen Kater hinab. »Als ob ein Zwerg wie du, einen echten Kerl wie mich aufhalten könnte«, brummte er und hob den schwarzen Kater einfach zur Seite, als sei er ein Kleinkind, das man auf die stille Treppe setzte.

Es knackte zwischen Lazlos Zähnen. Unter tosendem Geknurre erwuchs der katzenhafte Händler zu einem riesigen Muskelprotz, dessen übergroßer Spitzhut nun lächerlich klein gegen die Decke des vier Meter hohen Raumes stieß. Er packte den Stiermann bei den Hörnen, hob ihn an diesen hoch bis zu seinem Gesicht und brummte mit tiefer, basslastiger Stimme: »Möchtest du Wetten darauf abschließen?«

Der Minotaurus wollte seinen Augen nicht trauen. Dennoch holte er mit geballter Faust aus und verpasste dem Kater einen direkten und harten Treffer zwischen die Rippen, dieser zuckte nicht einmal. Dann folgte ein ebenso kräftiger Hieb mit der linken Faust. Schlag um Schlag drosch Heberticus immer wieder auf den Kater ein, bis schließlich seine eigenen Fäuste vor Schmerz bebten und pochten. Herberticus gluckste verunsichert in das vergnügt grinsende Gesicht des Schattenfells.

»W-w-warte, warte. H-h-habt ihr es denn noch gar nicht gehört? D-die Finsternis ist zurück! Sie ist überall! In nahezu jeder bekannten Welt! Heute Morgen hat sie sogar Haven erreicht. Sie breitet sich rasend schnell aus. Alle verlassen die Stadt. Selbst Gilligan ist längst über alle Berge!«

»Was?! Die Finsternis? Etwa der Weltenfresser?« Stacy hob irritiert ihre linke Oberlippe, bis einer ihrer Eckzähne aufblitzte. »Lazlo, lass ihn runter.«
Der Kater zögerte. »Aber ...«

»Kein aber!« Sie hätte es wissen müssen. Ja, sie hätte in dem Moment darauf kommen müssen, als Lazlo von Merrin erzählte. Eine schlimme Vorahnung überkam Stacy plötzlich hinsichtlich ihres Lieblingsdrachen und seinem rothaarigen Quälgeist.

»D-d-danke Miss Schneeschuppe«, gab der Minotaurus kleinlaut von sich.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wedelte sie mit ihrem Handrücken Richtung Ausgang. Er und alle anderen griffen sich, was sie tragen konnten und verschwanden, ohne auch nur eine weitere Minute ihrer wertvollen Zeit zu vergeuden.

Lazlo sperrte die Türe ab und lugte zeitgleich durchs Fenster nach draußen. Er war sich nicht mehr sicher, wann die Straßen von Haven das letzte Mal mit so viel Hektik befüllt waren. Sogar die schüchternen Panotii mit ihren riesigen Ohren liefen ganz offen auf der Straße neben unzähligen anderen Wesen umher.
Es knackte, kratzte und knirschte und mit einem Mal schrumpfte das Schattenfell wieder zu einem Winzling zusammen. »Yaaaho!«, rief er und hielt sich den brummenden Schädel. »Bei meiner Tatze, mir tut alles weh«, jammerte er weiter.
Stephanie gesellte sich zu ihm und massierte sanft sein kleines Köpfchen, bis er zu schnurren begann.

Auch Stacy wagte einen mürrischen Blick auf den Wahnsinn außerhalb ihrer Ladentüren. »Damit wäre dann auch geklärt, warum die Schaben vor rund einer Woche den ganzen Zuckervorrat aufgekauft haben. Egoistische Krabbler! Hielten es nicht mal für nötig einen Ton zu sagen!«, knurrte sie.

»Das überleben des Stärkeren, rau!«

»Das ist keine Entschuldigung dafür ein Arschloch zu sein«, keifte Stacy schroff.
»Ist es wirklich so schlimm?« In Stephanies Stimme schwang eine gewisse Sorge mit. Sie dachte in diesem Moment das erste Mal, seit sie mit Luna auf diese Reise ging, an ihre oberflächlichen Freundinnen und ihre Familie. Auch wenn sie zu keinem davon ein besonders gutes Verhältnis pflegte, machte sie sich dennoch Sorgen und hoffte, dass es ihnen gut ging.

»Du hast ja keine Vorstellung«, flüsterte Stacy an der ihrer Daumenkralle knabbernd. »Stephanie, du folgst mir in den Keller. Wir packen alles zusammen, was noch da ist. Lazlo, geh aufs Dach und bereite die Sky-Cruiser vor. Wir verschwinden hier.«

»Aye, aye! Aber wohin denn?«, fragte Stephanie ganz besorgt.

»Ich hörte vor einiger Zeit ein Gerücht über ein Schiff. Nicht weit von hier, etwa sechs Sprünge. Ich würde es in Anbetracht der Umstände gerne kriegen.«

Nur wenige Minuten später quietschten und knarzten ächzend die Zahnräder der hydraulisch angesteuerten Vorrichtung, als hätte man sie unsanft geweckt und das Dach des wundersamen Geschäfts klappte langsam, jedoch kontinuierlich zu zwei gegenüberliegenden Seiten auf.

Der katzenhafte Händler ließ seine Nase umherwandern. Niemand da, das war ein gutes Zeichen. Er tapste mit winzigen, aber flinken Schritten zu der großen, staubigen Plane und hatte Mühe, diese eigenständig von dem silberblauen Gefährt zu rupfen. Unbeholfen kletterte er in das offene Cockpit der Sky-Cruiser und legte sein Na-Vi auf den dafür vorgesehenen Platz. Augenblicklich begannen unzählige Lichter auf der Steuerarmatur aufzuleuchten und zu blinken. Die Triebwerke des libellenartigen Gefährts erwachten zum Leben und spülten eine Menge Staub sowie einige Kleintiere aus ihren Filtersystemen.

Lazlo hustete und wedelte mit seinen Pfoten umher. »Anspringen tust du ja schonmal. Wollen mal sehen, ob noch alles funktioniert.« Das Schattenfell mit den weißen Pfoten schnurrte konzentriert vor sich hin und bedient nach und nach diverse Hebel, Schalter und Knöpfe. »Motor? Check! Flügel eins bis vier? Check! Navigation? Check!«

»Lazlo? Bist du so weit?«, rief Stacy mit Stephanie im Schlepptau die Treppen zum Dach erklimmend. Sie wurden von drei schwebenden Metallkisten begleitet, die auf Stacys Fingerzeig hin, wie von selbst auf die Ladefläche der Ski-Cruiser Platz nahmen. Ein magnetisches Klicken bestätigte die feste Verankerung der Waren auf der Ladefläche.

»Yaaaho! Einen Moment noch«, antwortete der Kater in der Bordanalyse vertieft.
Stacy blickte über den Rand des Daches in Richtung Horizont. Was sie sah, gefiel ihr nicht. »Wir haben keinen Moment mehr!«, keifte sie und hechtete mit Stephanie im Arm in das Cockpit des kleinen Flugschiffes. Sie stieß Lazlo brutal mit ihrem Ellenbogen beiseite, murrte dass sich alle festhalten sollen, und ließ den Schubhebel bis zum Anschlag nach vorne Schnellen.

Die Sky-Cruiser sauste aus dem Stand heraus in einem solchen Tempo los, dass es Stephanie und Lazlo um ein Haar vom Bord gefegt hätte. Hastig glitt sie von Dach zu Dach, immer wieder lösten sich Ziegel und stürzten in die Tiefe, dann musste Stacy einen Bogen um Gilligans Turm machen.

Stephanie bemerkte dieses unangenehme Surren hinter ihnen, blickte zu dessen vermuteter Quelle und fuhr schlagartig zusammen. »O Gott! Was ist das?«
Wie eine brutale, alles verschlingende Welle aus purer Dunkelheit, gruben sich die haushohen Tentakel der Kreatur ihren erbarmungslosen Weg durch die Landschaft. Häuser wurden durchbrochen, Straßenzüge aufgerissen und selbst einige der fliegenden Wesen, wurden noch in der Luft von der Kreatur erwischt. Das war kein Spiel, kein langsames Ausbreiten und verschlucken von allem, was sich im weg befand. Der Weltenfresser machte mit Haven kurzen Prozess und ließ kaum jemanden die Gelegenheit, auch nur zu realisieren, was gerade geschah. Eine reine Extinktion des Planeten und ihrer Bewohner.

Lazlo sah hilflos dabei zu, wie unter ihnen einer nach dem anderen der Finsternis zum Opfer fiel. Freunde, Kunden, Geschäftspartner, Konkurrenten. Er sah ihre Verzweiflung, ihre Panik und kurz bevor sie es erwischte, ihre Resignation, als sie begriffen, dass alles zwecklos war.

Sie erreichten die Küste und Stacy fokussierte bereits dessen Portalplattform, während direkt hinter ihnen weitere Gebäude unter der tobenden Finsternis eingerissen wurden.

Die Nixen und Meerjungfrauen flohen in die Tiefen der Gewässer. Auch dort sollten sie nicht vor der Reichweite des Verschlingers sicher sein. Zwei größere Tentakel schossen aus den Überresten des Küstenviertels, beschrieben einen hohen Bogen und tauchten in die Tiefen des Meeres hinab.

Das Grollen kam immer näher und Stephanie kniff verängstigt ihre Augen zu, als das finstere Etwas kurz vor dem Ziel nach dem Heck der Sky-Cruiser griff.

LaTerra:
»ACHTUNG!«, schrie Stacy, als das Schiff durch den Übergang schoss. Sie trat auf die Bremse und legte einen scharfen Drift hin. Funkensprühend rauschte die Ski-Cruiser über den glatten Asphalt und kam nur wenige Zentimeter vor einer verheerenden Wand zum Stehen. Surrend und glucksend erloschen die Lichter der Armatur.

»Mist! Motor abgewürgt!«, fluchte die Echsendame und startete das Bordsystem direkt von neuem. Nur langsam erwachten die Lichter der Armatur wieder zum Leben. »Was dauert da denn so lange!«

»Sie muss erst hochfahren«, entgegnete Lazlo und prüfte bei der Gelegenheit, ob noch alles an ihm dran war.

Stacys Faust drosch auf die Armatur ein.

»Davon geht es auch nicht schneller, rau.«

Stephanies schweißbenetzen Finger klammerten sich an die Oberkante der Passagierschale. Das Adrenalin pochte nur so in ihren Adern und ihre Aufmerksamkeit glich einem Tunnel. Es gab nur sie und diesen Durchgang, den sie anstarrte, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Ihr Herz donnerte so laut, dass sie befürchtete, es würde ihr gleich aus ihrer Brust springen. Mit jeder Sekunde die verstrich, ohne dass sie sich vom Fleck bewegten, wuchs Stephanies Unbehagen.
»Los – los – los!«, wimmerte sie. »Dieses Ding kommt jeden Moment hier durch!« Stephanie zappelte immer unruhiger hin und her und zog bereits in Erwägung einfach von Bord zu springen und die Beine in die Hand zu nehmen, da starteten die Turbinen und die Libelle erhob sich wieder.

Auch der Kater strich sich eine Ladung imaginären Schweiß von der pelzigen Stirn.

Mit eingeklappten Flügeln glitten sie anschließend die geräumige und leergefegte Verbindungshalle entlang.

Stephanie runzelte die Stirn. »Wo sind denn alle hin? Beim letzten Mal ging es hier zu, wie auf einem Bahnhof.«

Lazlo nickte kritisch dreinschauend, »Wie unüblich für LaTerra. Auch, dass keiner am Tor stand, ist seltsam. Die überprüfen hier doch jeden Floh, der durch einen Übergang kommt. Scheiß Bürokraten!«

»Mich beunruhigt noch etwas ganz anderes.« Stacy ließ die Sky-Cruiser an der nächsten Ecke links abbiegen und nahm Kurs auf den dritten Portalraum rechts. »Warum hat es uns nicht verfolgt? Es war direkt hinter uns, also wieso hat es uns in Ruhe gelassen?«

»Vielleicht hat es mit den verschwundenen Leuten zu tun?«, warf Stephanie in den Raum.

Die Echsendame ließ ihren Kopfkamm leicht vor und zurückzucken, während sie den nächsten Ausgang bereits argwöhnisch anvisierte. »Vielleicht.«

Kapitel 5: Die Arche

Der Sky-Cruiser surrte leise gleitend durch den Nachthimmel von Srilea. Eine Welt die, schon vor Jahrhunderten durch eine Vielzahl an Katastrophen begünstigt, zu neunzig Prozent vom Wasser verschluckt wurde. Es gab nur noch vier Landketten, die einmal prächtige Gebirge waren, sowie einen kleineren Kontinent, der direkt nach der großen Flut vorhanden war. Beides bot nichts als kahlen Fels und verschiedene Moosarten.

Menschen lebten auf schwimmenden Inseln, erbaut aus Stahl und purer Willenskraft. Sie hatten gelernt, die Pflanzen des Meeres mit dem anzubauen, was sie hatten. Nutzten komplexe Filteranlagen, um nicht zu verdursten und wurden dennoch immer weniger. Schuld daran waren die Quipieläh, eine aggressive, amphibische Lebensform. Sie kamen mit dem neuen Kontinent und waren der ausschlaggebende Grund, dass die restlichen Menschen kaum noch wagten ins Wasser zu gehen. Unter denen, die eine solche Begegnung überlebt hatten, glaubten einige es seien mutierte Menschen, mit Kiemen und Schuppen, statt Haut und Ohren. Sie irrten sich. Quipieläh, entwickelten sich über Jahrtausende in den tiefen des Meeres aus kleinen Raubfischen und ihr Durst nach Frieden mit einer anderen Spezies, hätte nicht kleiner sein können.

»Seht mal, da unten!« Stephanie verwies auf das sprudelnde Gewässer im Mondlicht.

Stacy sah argwöhnisch mit erhobener Augenbrauenpartie über den Rand ihres Gefährts. »Quipieläh. Ich schätze, sie fressen gerade.«

Lazlo strich sich über seine Schnurrhaare, während er ebenfalls das Spektakel beäugte. »Ach, was solls!«, murrte er und fuhr mit einem Tastendruck auf dem Cockpit die rechte Harpune der Ski-Cruiser aus. Der Kater setzte sich hinter den schwenkbaren Kopf, zielte in die Menge und betätigte den Abzug. Der Ankerpfeil sauste in die See und unter krächzendem Gesurre kämpfte der Motor der Winde gegen den Widerstand am Harken. Kontinuierlich wickelte sich das Seil auf, als interessiere es sich nicht für den Willen seiner Beute.

»Lazlo!«, knurrte Stacy.

Seine pelzigen Ohren zuckten auf. »Rau? Was? Wem willst du etwas verkaufen, wenn keiner mehr übrig ist? Und Dankbarkeit – brachte schon immer hohen Profit.«

Zappelnd und fauchend wandt sich das gerettete Etwas am Harken und versuchte, in der Luft taumelnd, direkt mit ihren Krallen nach Stephanie zu greifen.
Diese wich erschrocken zurück und stürzte zu Boden. »I-ist das eine Meerjungfrau?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Stephanie musste zugeben etwas verunsichert zu sein, hatte sie diese bisher doch eher als leichtherzige und freundliche Wesen kennengelernt.

Lazlo spielte grübelnd mit seinen Schnurrhaaren. »Nein, rau. Das hier ist eine Sirene. Verwechselt man schnell mal.«

Sie bäumte sich fortwährend gegen ihre Gefangenschaft auf, blickte zu ihrer durchlöcherten Schwanzflosse und heulte unsagbar grässlich auf. »Ihr Monster!«, blubberte sie. »Seht euch meinen wunderschönen Schweif an! Dafür werdet ihr bezahlen!«

Ruckartig ließ Lazlo das Seil der Winde einen guten Meter in die Tiefe sausen.

»Nein! Nein! Alles, nur nicht wieder hinunter«, wimmerte sie plötzlich kleinlaut.

»Seht ihr, Dankbarkeit ist was Tolles.« Der Kater grinste und holte sie wieder nach oben. »Und du wirst sehr dankbar sein. Oder wir lassen dich wieder mit deinen kleinen Freunden spielen. Du hast die Wahl.«

Die Sirene machte einen unzufriedenen Eindruck, ihr missfiel das Funkeln in den Augen der Katze. Doch sie beschloss, ihren Ärger vorläufig hinunter zu schlucken und willigte schließlich mit einem stummen Nicken ein.

»So ist fein. Und jetzt gibst du dem guten Onkel Lazlo deine Perle. Quasi als Preis für das Ticket zu diesem Schiff, du verstehst?«

»Niemals, du Halsabschneider!«, fauchte sie.

»Okay.« Und wieder sauste die Winde in die Tiefe.

»Einverstanden!«, korrigierte sie ihre Meinung blitzschnell, als sie tief unter ihr in die gierigen Fratzen ihrer Peiniger blickte.

»Na, geht doch«, sagte er trocken und holte das Fischweib abermals hoch. Fordernd streckte Lazlo seine pelzigen Pfoten nach ihr aus. Sie erwiderte die Geste, um sich an Bord ziehen zulassen, worauf hin Lazlo eilig seine Pfote zurückzog. »Ahahah! Hast du nicht etwas vergessen, rau?«

Missmutig verschränkte sie ihre Arme und verfinsterte ihre Miene zu einem trotzigen Blick. »Ist ja schon gut!« Ihr Körper bäumte sich auf und ihre Bauchmuskeln verkrampften. Dann röchelte die Fischfrau und würgte, bis das glänzendschimmernde Objekt der Begierde aus ihrem Rachen hervor trat und in ihre Hand glitt. »Da hast du sie ja.«

Lazlo traute seinen Augen nicht, als er die tiefrote Perle mit beiden Pfoten ergriff und die Sirene zeitgleich an Bord zog. »Wohoh! Stacy, sieh dir mal die Größe und Farbe an. Da scheinen wir ja eine richtige Killerin vor uns zu haben, Yaahoh!« Eilig verstaute der Kater sie, damit das Fischweib gar nicht erst auf dumme Gedanken kam.

»Muss das sein?«, protestierte Stephanie und warf dem zitternden Fischweib eine wärmende Decke über die Schultern. »Ist schon gut, du bist nun sicher.«

»Danke, sehr lieb von dir.« Ihr freundliches Lächeln ließ Stephanies anfängliche Furcht dahinschmelzen und sie in trügerische Sicherheit wiegen.
Die Hände der Sirene glitten sanft liebkosend zu Stephanies Gesicht hinauf, während sie sich tief in die Augen sahen. Stephanie verlor sich in dem wunderschönen Grün ihrer Augen und das leise Summen ihrer wunderschönen Stimme. Sie wollte nur noch bei ihr sein und wagte es nicht, dieser seltsamen Vertrautheit widerstehen zu wollen. Im Gegenteil, was auch immer gleich passierte, sie würde es mit voller Wonne geschehen lassen. Stephanie wollte ganz ihr gehören. Für jetzt und für immer.

Ruckartig und ohne jede Vorwarnung wurde Stephanie aus ihrer lieblichen Trance gerissen, als Stacy sie packte und am Arm davon zog. Nur langsam kam sie wieder zu Sinnen. Stephanie schüttelte ihren Kopf, um die irrsinnigen Gedanken wieder loszuwerden, die eben noch in ihr wuchsen. »Wow! Was war das?«

»Versuchst du das nochmal, trete ich dich gnadenlos von Bord! Hast du mich verstanden?«, drohte Stacy der Fischfrau.

»A-aber sie wollte doch nur nett sein.«, verteidigte Stephanie sie.

»Nett? Kleines, eine Sekunde später und sie hätte angefangen, dir das Gesicht von den Knochen zu lutschen!«

»Sie wollte was?«, entwich es Stephanie fassungslos.

Das Fischweib grinste dreckig und schwieg.

Lazlo schloss die Frachtkiste und wandt sich Stephanie zu. »Yaahoh! Traue keinem noch so freundlichen Lächeln einer Sirene! Sie sind Killer! Und ich meine Killer! Sie können nichts dafür, liegt in ihrer Natur.« Der Kater begutachtete die rothaarige Fischfrau argwöhnisch. »Es sei denn, man hat etwas ganz Bestimmtes, das ihnen gehört, nicht wahr?«

Sie fauchte fletschend mit nadeldünnen Zähnen und zitternden Ohren an.
Der Kater rieb sich selbstgefällig die Pfoten und beugte sich provokant grinsend vor. »Fauch, so viel du willst, aber solange du auf diesem Schiff bist, benimmst du dich gefälligst. Sonst gehst du wieder mit deinen Freunden da unten spielen. Deine Entscheidung.«

Widerwillig und eine schwer gekränkte Schippe ziehend, blickte sie sich um. Es wäre ihr sicherlich ein Leichtes gewesen, die Katze und das Menschending zu beseitigen, nur bei der Echsendame, war sie nicht sicher und dann gab es da noch das Problem mit diesem Flugapparat. Sie wusste nicht, wie man so etwas steuerte. Noch bevor die Sirene auch nur einen weiteren Gedanken an der Lösung ihres Problems verschwenden konnte, verkrampfte sie, stöhnte und tobte vor Schmerz. Hektisch und mit zusammengebissenen Zähnen rupfte die Fischfrau an den Schuppen ihres Schweifes, als würde sie krampfhaft versuchen, ihrer eigenen Flosse zu entkommen. Wie jemand, der sich aus einer zu engen Jeans pellen musste, drückte sie die abgestorbene Flosse von ihrem Unterleib fort und nur wenige Augenblicke später lag sie mit zwei wunderschönen, menschlichen Beinen da und prustete erschöpft vor sich hin.

Stephanie mochte sich nicht einmal ausmalen, welche Schmerzen dieser Prozess einem wohl bereitete.

Die weißgeschuppte Echsendame blickte in die tiefe See und wusste mit einem Mal ganz genau, warum sie sich für die Ski-Cruiser entschieden hatte, wenn sie schon diese Route nahmen. Die Quipieläh folgten ihnen unentwegt, als würden sie nur darauf warten, dass einer von ihnen etwas Leckeres von Bord warf.

»Was macht eine Sirene in Srilea?«, fragte Stacy neugierig. »Ihr Weiber der See wisst doch um die Gefahren dieser Gewässer.«

»Fliehen«, lautete ihre erschöpfte Antwort.
Lazlo und Stacy horchten gleichermaßen auf. »Vor dem Weltenfresser?«, fragte Stacy dann.

Die Sirene zögerte und schluckte schwer. »Eine summende Finsternis. Heimtückisch und hungrig. Sie bahnte sich ihren Weg aus dem Schoß unserer Welt, hinauf zur Oberfläche und verschluckte alles und jeden. Es sind nur wenige Entkommen. Moira und ihre Schwestern schnappten Gerüchte von einem Schiff auf, gebaut für den Tag, an dem die Quelle ihren letzten Atemzug macht, dort wollten wir hin.« Sie senkte ihren Blick, ihre Augen wirkten leer und ohne einen Schimmer Hoffnung. »Drei Gewässer später, trafen wir erneut auf dieses Ding! Es schnitt uns den Weg zu den sicheren Routen ab und zwang uns in dieses Wasser, wo uns schon am Eingang diese niederen Bestien aufgelauert hatten.« Sie begann zu zittern und vergrub ihr Gesicht, grauenvoll jammernd, tief in den Schoß ihrer Knie. »Sie haben Moiras Schwestern erbarmungslos in Stücke gerissen, als wären wir nur Vieh. Kein schönes Gefühl an diesem Ende der Nahrungskette zu schwimmen.« Ihre Aufmerksamkeit glitt zu der sich kräuselnden Wasseroberfläche und huschte schnell wieder in Sicherheit.

»Verstehe.« Gedankenversunken versuchte Stacy diese neuen Informationen zu einem einheitlichen Bild zu formen. Ihr Kopfkamm bebte dabei in tiefen Zügen auf und ab. »Welche Welten waren es? Durch welche seid ihr geflohen?«

»Floura, Bliestien, Dago und dann Truhgah.«

Lazlo und Stacy sahen sich fragend an und die Echsendame erhob erneut das Wort für sie beide. »Bitte? Ich kenne keine davon.«

Die Fischfrau fauchte erneut und ihre Ohren rasselten wieder bedrohlich auf. »Moira ist keine Wanderin der blauen Sonne! Sie kennt eure Namen für andere Gewässer nicht!«

»Yaahoh! Sieh mal, Stacy.« Lazlo hielt ihr einen Eintrag aus Stephanies Na-Vi unter die Nase.

Stacy nickte. »Verstehe, Bliestien ist sogar mal von einem unserer Leute aufgeschnappt worden. Es handelt sich um B-39. Eine trostlose Einöde. Kaum Population, nur noch wenig Fortschritt. Moira, waren die anderen Welten auch so?«

Sie blickte mit großen unschuldigen Augen zur schneeweißen Echsendame auf und nickte.

Stacy beugte sich zu ihr hinunter. »Und die Welt, in der man euch den Weg abgeschnitten hat, wie war die?«

»Viel krach! Schmutzig! Und ...« Sie fauchte erneut mit wutverzerrtem Gesicht. »Menschen! Widerlich stinkende Menschen!«

Die Nickhaut der Echsendame schloss sich kurz wie bei einem Atemzug. »Interessant.«

Moira verkroch sich, so gut es ging, unter die Decke und stierte immer wieder verstohlen zu der verschlossenen Kiste mit ihrer geliebten Perle darin.
 Um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, ließ Lazlo den Weizenhalm seines Spitzhutes spielerisch auf der Nase der Fischfrau niedersausen. »Denk nicht einmal daran. Die Kiste ist versiegelt, aufbruchsicher und mit einem Passwort geschützt, das nur ich kenne.«

Stacy nahm ihm den Halm weg und steckte ihn wieder an seinen Hut. »Keine Sorge. Sie will überleben. Daher wird unser Gast sicherlich keine Dummheiten machen, oder?«

Missmutig knurrte Moira erst in sich hinein und hob den Kopf wieder ein Stück
aus der Decke. »Moira wird brav sein, Moira wird hilfreich sein.«

»Kluge Entscheidung.« Stacy erhob sich wieder aus der Hocke und wandte sich ihrem Geschäftspartner zu. »Lazlo, änder den aktuellen Kurs und passe ihn auf Welten mit wenig Zivilisationen an.«

»Verstanden. Das dauert dann aber etwas länger als über dem direkten Weg.«

»Ist mir egal!«, brummte sie schroff.

Der Kater seufzte, setzte sich hinters Steuer der Sky-Cruiser und tippte die neue Route ein.

Milaskula, neun Tage später:
Die Halme der tiefgrünen Wiese wurden von sanften Briesen erfasst und durch die hügelige Landschaft getrieben. Vögel kreisten über das organisch wirkende Schiff. Es lag da – imposant und anmutig – als wäre es schon immer ein Teil der Landschaft gewesen und doch wirkte es so fremd und deplatziert wie ein unheimliches Gebilde aus einer fernen Galaxie.

Leise surrte die Ski-Cruiser über die grünen Dünen, vorbei an unzähligen Wesen aus allen möglichen Welten, die bis hierher vorgedrungen sind. Sie alle hofften auf Rettung oder zumindest auf Antworten.

»Da sollen alle rein passen?« Stephanie runzelte die Stirn. »Das wird dann aber ziemlich eng.«

»Der äußere Schein trügt, glaub mir.« Stacy überließ Lazlo das Steuer und nutzte die Gelegenheit, um in der Masse all dieser Wesen nach dem grünengeschuppten Himmelsdrachen Ausschau zu halten. Ihr Fernrohr blitzte immer wieder hoch, wenn sie der Meinung war, in der Weite etwas erkannt zu haben, dass ihm ähnlich sah, nur damit sie es wenige Augenblicke später wieder enttäuscht niedersinken ließ.

Auch die Sirene sah sich hoffnungsvoll um. »Da!«, rief Moira plötzlich und zeigte in die Menge. »Seid so gut und setzt Moira dort bitte ab, ja?«

Stacy schnaubte mit ihren Nüstern, sah zu Lazlo und nickte. Augenblicklich schwenkte ihr Kurs nach rechts und sie hielten wenige Momente später vor einer schwarzhaarigen und atemberaubenden Schönheit von einer Frau.

Moira sprang freudestrahlend von Bord und schlang die Frau überglücklich in ihre Arme. »Schwester Aurelia, ihr lebt! Wie wunderschön.«

»Wenigstens für sie ein Happyend«, seufzte Stacy.

»Hey, hast du nicht etwas vergessen?«, rief das listenreiche Schattenfell und ließ ihren Schatz im Licht der Sonne funkeln. Argwöhnisch begutachtete Lazlo die Perle in seinen pelzigen Pfoten, als würde er abschätzen, ob es sich lohnt, sie zu behalten. »Nargh, Hier!«, murrte er dann und warf ihr die rote Kugel zu.
Moira fing sie perplex auf. Sie konnte die Güte des Katers nicht in Worte fassen und lächelte stattdessen verlegen.
 
Die Sky-Cruiser setzte anschließend Kurs in Richtung des Hangers, zu dem alle strömten und Stephanie winkte der Fischfrau zum Abschied, bis sie in der Menge nicht mehr zu sehen war.
 
Stacys Fernrohr blitzte erneut auf, während sie es suchend auf die Masse der Reisenden hielt. »So kenne ich dich ja gar nicht«, richtete sie das Wort an den Kater.

Lazlos linkes Ohr zuckte auf. »Was meinst du?«

»Die Perle hätte uns ein Vermögen einbringen können. Seit wann lässt du dir solch eine Möglichkeit entgehen?«, zog Stacy ihn auf.

»Pfft! Ich bin Händler, kein Monster, rau! Wir wissen beide, dass sie sich ohne ihre Perle nicht ausreichend nähren kann. Sie hätte fressen können so viel sie wollte, und wäre dennoch elendig verhungert. Widerliche Vorstellung.«

»Das ist total lieb von Ihnen, Herr Schneepfote.«

»Danke, Stephanie.«

Stacy senkte kreidebleich das Fernrohr, nachdem sie den Hanger damit absuchte. »Ist das Gilligan vor dem Podium? Was macht der hier? Ist das Schiff etwa in seinem Auftrag erbaut worden?«

Lazlo schnalzte abschätzig. »Ohne den Rest des Netzwerks zu informieren? Welchen Sinn hätte das?«

Stacys Kopfkamm pulsierte hin und her. »Weiß ich nicht, aber da steht er und wartet auf irgendwas.«

Erhaben die Hände hinter seinem Rücken gefaltet blickte Gilligan auf all die Seelen, die um Einlass flehten. Die silberne Brosche – das Symbol des Netzwerks – funkelte in der Sonne und hielt den sternenbesetzten Umhang an Ort und Stelle. Er räusperte sich, atmete tief ein und hüllte sich in vielsagendes Schweigen. Die Rampe lag nun schon eine Weile weitgeöffnet da und er wartete erwartungsvoll an dessen oberem Ende. Melodei Solarin trat aus dem Schiffsinneren an ihn heran, flüsterte der grauen Eminenz etwas zu und verließ ihn sogleich wieder.
Gilligan lächelte erleichtert. Es war eines, das man aufsetzte, wenn einem eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen wurde.

Dann machte sich stechender Schmerz in den Köpfen aller Anwesenden breit, bis auch das letzte Wesen begriff, wohin es seine Aufmerksamkeit zu richten hatte.
Es erfüllt mich mit aller größter Freude, zu sehen, wie viele von euch diese beschwerliche Reise überstanden haben, ertönte seine Stimme zeitgleich in den Köpfen aller Anwesenden und in den unterschiedlichen Sprachen ihrer jeweiligen Herkunft. Ich weiß, welch Qualen ihr erleiden musstest. Welche Verluste euch begleiten, welche Ängste. Ängste, die in Anbetracht der Umstände – nicht unbegründet sind. Ich werde euch nicht anlügen. Die Lage ist desaströs. Der Weltenfresser ist zurückgekehrt und dieses Mal, ist es schlimmer als jemals zuvor. Wir wissen derzeit nicht, warum es so viele Welten auf einmal trifft. Er holte tief Luft und seufzte schweren Gemüts. Doch es gibt noch Hoffnung. Solange wir noch da sind, gibt es noch Hoffnung. Was ihr hier seht, ist die Arche! Ein antikes Weltenschiff der ersten Wanderer. Es war für Zeiten wie diese erdacht, an denen alles hoffnungslos schien. Glücklicherweise ist es uns gelungen, sie rechtzeitig fertig zu stellen.

Die Menge sah gebannt auf die kleine, graue Eminenz. Ein jedes Wesen hing an seinen bewegungslosen Lippen, als seine Stimme alles, was jetzt noch zählte.
Wir werden gemeinsam auf Reisen gehen, in Bewegung bleiben und retten, wen wir retten können, um am Ende neu anzufangen, nachdem die Quelle ihren letzten Atemzug gemacht hat. Gilligan sah die aufkeimende Unsicherheit und Angst in den Herzen der Anwesenden. Fürchtet euch nicht. Seid versichert, dies ist nicht das Ende. Wir werden überleben. Und die Masse jubelte.

Stacy spürte, wie sich sein gedanklicher Griff langsam löste. Während sich die Ersten geordnet ins Schiffsinnere begaben, galt ihre Aufmerksamkeit weiterhin der breiten Masse. Immer wieder stellte die Echsendame sich auf die Zehenspitzen und streckte den Kopf in die Höhe. Sie war sicher, dass er hier irgendwo sein musste, ganz sicher sogar. Diego war schließlich kein Idiot und wusste stets, was er tat. Vielleicht war er daher auch längst an Bord. Stacy wollte in jedem Fall nicht ohne ihn gehen.

Lazlo starrte Kopfkratzend auf dem Bildschirm seines Na-Vi und zupfte plötzlich ganz aufgeregt an der tiefschwarzen Lederleggins der schneeweißen Echsendame.

»Was ist?«, fauchte sie.

»Dozer hat gerade ein Rundschreiben veröffentlicht. Ein detaillierter Bericht über die Vorkommnisse im R-Sektor.«

Kapitel 8: Ein Sturm zieht auf

Milaskula:
Der Himmel über der grünen Hügellandschaft wurde inzwischen von immer dichteren Wolken behangen, während Schritt um Schritt Lebewesen aller Art zu dem einen Ort trabten, der noch Hoffnung versprach. Steinriesen, Alraunen, Schattenläufer, Mermecolionen, Glatisanten die Vielzahl an Wesenheiten nahm kein Ende. Manche kamen von so weit her, dass nicht einmal Gilligan genau sagen konnte, aus welcher Welt sie stammten.

Mit auf dem Rücken gefalteten Händen stand er da. Die großen, tiefschwarzen Facettenaugen des kleinen, grauen Mannes betrachteten das stetig wachsende Meer aus Lebewesen. Sie alle ersuchten die durch sein vorausschauendes Handeln ermöglichte Zuflucht. Ein Lächeln stahl sich auf seine schmalen Lippen. Nie hätte Gilligan gedacht, dass seine Botschaft so viele erreichen würde.

Es war ein Impuls, ein gut platzierter Gedanke in den Köpfen all jener, denen Gilligan in den vergangenen Monaten auf seinen Reisen begegnete. Mehr war nicht nötig. Dieser breitete sich aus, sprang auf Freunde und Verwandte wie ein infektiöser Virus über und erwuchs zu einer festen Gewissheit: Sollte ihre Welt je wieder von der Finsternis heimgesucht werden, mussten sie unter allen Umständen an diesen Ort gelangen. Gilligan mochte sich nicht einmal ausmalen, welche Kraft es einige gekostet haben musste, dieses Kunststück zu vollbringen.
Im Schritttempo tuckerte das libellenartige Flugschiff über die oberste Kante der Laderampe. Lazlo hatte die Sky-Cruiser längst auf Autopilot gestellt, um fasziert die nicht enden wollende Masse an Lebewesen zu bewundern, die immer Zahlreicher und in alle Richtungen zu dem Schiff strömten. »Wow! Seht euch das an!«, rief er durch Stacys Fernrohr blickend. »Funkenflieger! Pockelwürmer und Riesellen! Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie selten man die zu Gesicht bekommt?«

Stephanie saß im hinteren Teil der Sky-Cruiser neben Stacy auf einer der silbernen Lagerkisten und versuchte, der schneeweißen Echsendame irgendwie Trost zu spenden. Sie versuchte es erst mit einem Arm um Stacys Schulter. Doch da ihre Schuppen überraschend scharfkantig waren, brach Stephanie die liebgemeinte Geste schnell wieder ab. Wehleidig und hilflos beobachtete sie, wie Stacy mit bebendem Kopfkamm das Bild ihres Lieblingsdrachen im Na-Vi anstarrte. Stephanie räusperte sich, erkannte jedoch, dass es nichts Sinnvolles gab, das sie in dieser Sekunde hätte sagen können und schwieg.

Sie reckte den Kopf in die Höhe, als die Sky-Cruiser endlich an Gilligan vorbei kam. »Warten Sie kurz, Miss Schneeschuppe. Ich bin gleich wieder für Sie da.« Stephanie stand auf, lehnte sich über die Reling des Schiffes und winkte exzentrisch. »Herr Gilligan! Herr Gilligan! Hier drüben! Ich bin es! Stephanie, Stephanie Grimes!«

Die graue Eminenz horchte auf, fuhr mit dem Kopf zu Stephanie um und lächelte. Miss Grimes, schön, dass sie es ebenfalls geschafft haben, ertönte seine Stimme sanft in ihren Gedanken.
 
Stephanie japste nach Luft, zögerte und rief ihm schließlich entgegen: »Kann ich Sie etwas fragen?«

Aber sicher. Noch während Stephanie den Zeigefinger an ihren Mundwinkel legte und über die Formulierung ihrer darauf folgenden Frage nachdachte, ertönte seine Stimme erneut in ihren Gedanken. Selbstverständlich, kannst du deine Frage auch auf diese Weise stellen. Es macht praktisch keinen Unterschied für mich. Allerdings weiß ich bereits, was du wissen möchtest. Was den Umstand der Frage überflüssig macht. Er schaute dabei zu, wie Stephanies dunkles Haar im stetig zunehmenden Wind wehte, während die Sky-Cruiser im unermüdlichen Schneckentempo an ihm vorbeiglitt. Es ist wahr. Im R-Sektor haben sich schreckliche Szenen abgespielt. Szenen, deren Konsequenzen wir nun bedauerlicherweise tragen müssen. Gilligan verharrte ehrfürchtig. Ich wünschte, ich könnte euch den Trost spenden, den ihr in den Stunden eurer Verluste verdient.

Stephanie faste sich an die Kehle und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Sie schwankte, sackte leichenblass auf die Knie und weinte.
Kaum war das Heck der Sky-Cruiser im Schatten des Hangars verschwunden, kämpfte sich Gloyn Urstryd, ältester Schiffbauer Havens, schimpfend, fluchend und rüpelhaft schubsend aus der ins Schiffsinnere strömenden Masse hervor. Er trat dicht an die Gilligan heran und flüsterte der grauen Eminenz.

Gilligan verharrte in einem tiefen Atemzug, während der seichte Wind immer dunklerer Wolken seinen hohen Kragen umherwehen ließ. »Ich weiß, alter Freund, ich weiß. Ich benötige dazu keine Bordinstrumente«, antwortete Gilligan gewohnt ruhig. »Man muss nur hinsehen und hören. Der Wind dreht sich unentwegt, kann nicht entscheiden, wohin. Das Gras und die Wälder sind schon seit Minuten still und selbst dort unten, unter all den armen Seelen ist es inzwischen zu erkennen. Der Weltenfresser hat uns gefunden.«
 
Gloyn zwirbelte das linke Ende seines stattlichen und mit winzigen, goldenen Perlen versehenen Schnäuzers und knurrte. »No Gedosch Mor.«

Gilligan entwich ein tiefer Atemzug und seine schmalen Schultern sanken. »Du sagst es, alter Freund. Das Ende dieser Welt ist gekommen.« Er lehnte sich leicht nach vorn und über die Kante der Schiffsreling, erhob sich in die Lüfte und drehte sich noch einmal zu Gloyn um. Verschwendet keine Zeit! Schließt die Tore und verschwindet von hier! Ich verschaffe euch Zeit.

Er sah dabei zu, wie Gloyn eilig zur Schiffsbrücke stürmte und dabei ein gutes duzend Leute aus dem Weg stieß, bevor Gilligan einen Bogen in der Luft beschrieb und hinunter zu den hilfesuchenden stürzte. Sofort streckte Gilligan seine Hände in beide Richtungen aus, während er bodennahe zwischen den Überlebenden hindurchflog. 

Ein Wesen nach dem anderen wurde augenblicklich durch seine Berührung ins Schiffsinnere teleportiert. Wo der Andrang so dicht war, dass Körper an Körper stieß, vollführten sogar ganze Blöcke an Lebewesen auf einen Streich durch die unscheinbare Berührung des kleinen Mannes einen Raumsprung.

Panische Hysterie brach unter den Reisenden aus, als plötzlich und unvermittelt die starre Laderampe des Schiffes zu einer flüssigen Substanz wurde, die nur wenige Augenblicke später den Zugang zum Hangar versiegelte. Frauen hielten zitternd ihre Kinder im Arm, hielten sie in die Lüfte und schrien nach Erbarmen für ihre Nachkommen. Schreie die von der Gewalt startender Motoren verschluckt wurden. Die Arche vibrierte, während der Boden unter ihr bebte. Wie ein Silberstreif am Horizont erhob sie sich mit wummernden Klängen träge in die Lüfte, flimmerte und verschwand.

Schweiß perlte von der Stirn der grauen Eminenz. Meter um Meter schickte er mehr Leute mit einer einzigen Berührung aufs rettende Schiff. Doch egal wie viele es waren, die Zeit würde nicht reichen, um alle zu retten.

Dicht über den Boden sausend hörte Gilligan das Knacken und Bersten der Gesteinskrusten tief unter ihnen. Die Erde zitterte, panische Aufschreie erfüllten die Luft und dann brach das Erdreich unter ihren Füßen mit der Gewalt einer gigantischen Explosion auf. Erde, Stein und Fels regnete nieder und mittendrin erschien die Finsternis. Gilligan rettete noch gute Dreiduzend Seelen, bevor er wenige Zentimeter von den Fingerspitzen eines Kindes entfernt eine hektische Seitwärtsrolle vollführen musste, um nicht von dem aus der Erde schießenden Tentakel erwischt zu werden. Kreise ziehend folgte er der Finsternis hinauf in den Himmel. Der Weltenfresser bäumte sich auf und holte zu einem verheerenden Angriff aus, während die unzähligen Facettenaugen der grauen Eminenz grell aufleuchteten. Ein markerschütterndes Donnern zog über die Welt.

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eBook (Erscheint ab dem 30.05.2023)