Kapitel 1

Das ungeborene Kind

 
Weit unter ihnen tobte das wilde Meer, während ein Sturm unerbittlich über ihren Köpfen wütete. Hin und wieder erhellte ein greller Blitz, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner, die Finsternis der Nacht. Sie fielen tief und noch konnte niemand sagen, ob sie den Sturz überleben würden
   Luna klammerte sich fest an ihren Vater. Auch wenn nicht alles nach Plan verlief, durchzog sie ein Anflug von Stolz. Sein erster richtiger Weltensprung. Sie lächelte. Im nächsten Moment schlugen sie mit unbändiger Wucht auf die Wasseroberfläche ein.
   Die schonungslose Strömung riss sie augenblicklich auseinander. Verzweifelt streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Doch so sehr sie es versuchte, sie erreichte ihn nicht. Immer wieder erhellten grelle Blitze die Dunkelheit. Seichtes Licht flackerte unbemerkt im Herzen ihres Anhängers, der an einer Kette um ihren Hals baumelte. Ihre feine Nase wurde vom salzigen Wasser geflutet und sie spürte, wie sich ihr Körper dem Unausweichlichen fügte.
   Bevor sie gänzlich das Bewusstsein verlor, dachte sie an die vergangenen Tage. Es klang albern, doch es waren die schönsten gewesen, die sie seit Jahren erlebt hatte.

Zwei Wochen zuvor:
   Die Sonne brannte heiß herab an diesem Nachmittag im Juni. Ein Umstand, um den sich die Bewohner des alten Berliner Mehrfamilienhauses in der Heinrich-Roller-Straße wenig scherte. Es war selbst im Obergeschoss noch angenehm kühl. Luna begrüßte diese Abwechslung nach ihrer langen und beschwerlichen Reise. Besonders wenn sie bedachte, welche Herausforderung sie noch vor sich hatte. Ihre Hände zitterten vor Anspannung. Gleich würde sie an der großen, grauen, unüberwindbar scheinenden Tür klingeln. Gleich. Jedes Mal wenn sie den Finger hob und er fast den bronzenen Knopf berührte, schreckte sie zurück, als könnte die Klingel jeden Moment beißen. Ein irrationaler Gedanke, war es doch nur eine normale Wohnungstür. Wenn sie wollte, hätte sie diese vermutlich mühelos durchbrechen können.
   Sie dachte in ihrer Nervosität für einen Augenblick darüber nach, hielt es dann jedoch für unangebracht und verwarf den Gedanken direkt wieder. Dennoch, je länger sie vor dieser Tür stand, desto schwieriger erschien es ihr, anzuklopfen. Hatte sie wirklich keine andere Wahl?
   Wahrscheinlich würde Jonathan ihr ohnehin nicht glauben und wer konnte es ihm verdenken? Es war zu verrückt, was sie ihm gleich mitteilen würde
   Luna atmete noch einmal tief durch und krempelte die Ärmel ihres viel zu großen, schwarzen Hoodies hoch. Nie hätte sie erwartet, dass sie so nervös sein könnte. Dann fasste sie all ihren Mut zusammen und – Ding Dong.
Das typische Klingelgeräusch ertönte.
   Luna biss sich leicht auf die Unterlippe. Erst passierte nichts. Kein noch so kleines Geräusch war aus der Obergeschosswohnung des Mehrfamilienhauses zu hören. In ihrer Ungeduld betätigte sie den Knopf noch ein zweites und drittes Mal, in der Hoffnung, dass sich die verdammte Tür endlich öffnete
   Er wird dir nicht öffnen, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte er auch? Was bist du schon für ihn? Er kennt dich doch überhaupt nicht! Halt die Klappe!, wehrte Luna ab und schüttelte ihren Kopf, um ihre negativen Gedanken loszuwerden.
   Da ertönte der Summer, während sich fast zeitgleich die Tür zur Wohnung öffnete und ein Mann in seinen späten Dreißigern zum Vorschein kam. Das Haar dunkelbraun, voll und unpassend zum Rest des Looks sehr gepflegt. Er trug eine nichtssagende dunkelblaue Jogginghose, nebst einem grauen Fan T-Shirt, welches das Logo des Films Jurassic Park zierte. Irgendwie typisch für ihn, fand Luna. Er wirkte gut trainiert. Nicht fitnesstrainermäßig, aber eine bewusste und gesunde Lebensweise war ihm durchaus anzusehen.
   »Ja, bitte?«, erhob Jonathan King gelassen die Stimme. Seine stahlblauen, alles durchdringenden Augen zeugten von einer inneren Ruhe und Besonnenheit, wie sie nur wenige besaßen, als er das Mädchen vor ihm skeptisch betrachtete. Auch das war typisch für ihn.
   Luna holte tief Luft und ignorierte das unbehagliche Beben in ihrer Brust sowie jeden quälenden Gedanken, der sie davonrennen lassen wollte. »Hi, ich – ähm – weiß, das klingt jetzt vielleicht etwas verrückt.« Sie verschränkte ihre Arme vor sich, um das leichte Zittern ihrer Handflächen zu verbergen. »Ich heiße Luna – und – bin deine Tochter.«
   Jonathans Augen weiteten sich überrascht und er spürte den aufsteigenden Kloß in seinem ausgeprägten Kehlkopf.
   Er dachte, er höre schlecht, habe einen Schlaganfall oder so etwas. Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt? Das ist doch lächerlich. Ich und ein Kind? Das kann unmöglich sein, schoss es ihm durch den Kopf.
   Er war sechsunddreißig und hatte nie auch nur einen Gedanken an eigene Kinder verschwendet. Für ihn waren Kinder nur der tief verwurzelte Wunsch, etwas von sich in dieser Welt zurückzulassen. Etwas, das sagte: Ich war hier und das ist mein Erbe.
   Jonathan fand den Gedanken zwar ganz nett, dennoch war es ihm nie in den Sinn gekommen, selbst eines haben zu wollen.
   Jonathan räusperte sich. »Du – musst dich irren. Ich meine, okay, ich war nie ein Kind von Traurigkeit, was das angeht, aber ich halte nicht viel von Kindern und habe auch sicherlich keines unwissentlich in die Welt gesetzt.«
   Entrüstet ließ Luna die schmalen Schultern hängen. Ich habe es dir doch gesagt, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte solche Worte erwartet und dennoch trafen sie mit einer solchen Wucht, dass sie am liebsten wieder gegangen wäre. Nein! Ich bin zu weit gekommen, um jetzt das Handtuch zu werfen! Sie schüttelte erneut den Kopf, befreite sich von dem Flüstern, das ihr riet zu verschwinden und blickte mit gestrafften Schultern zu ihm auf. »Und dennoch stehe ich hier. Dumm gelaufen.«
   Der plötzlich herausfordernde Tonfall verunsicherte Jonathan. Während ihre großen, bernsteinfarbenen Augen ihn ansahen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, sprach ihr ganzes Auftreten plötzlich eine völlig andere Sprache. Eine die etwas Bedrohliches hatte. Aufmerksam musterte er den rothaarigen Lockenkopf. Mattschwarz angestrichene Lippen und Nägel, sonst kein erkennbares Make-up. Dafür aber eine gerötete Nasenspitze. War sie erkältet?
   Jonathan betrachtete den übergroßen Bandhoodie mit der Aufschrift Mythemia, die zerschlissene Jeans-Shorts und die schwarzen, abgetragenen Dr. Martens-Stiefel, die ihre schlanken Beine zierten. Ein Modell mit lächerlich hohen und klobigen Sohlen. Er mochte sich nicht vorstellen, wie jemand darin vernünftig laufen konnte. Und dennoch war sie deutlich kleiner als er mit seinen knapp einen Meter achtzig. Grummelnd kratzte er sich am Hinterkopf. »Ist der Grunch-Look in deinem Alter gerade angesagt?«
   Luna schnaubte verächtlich. »Wow. War das ein schlechter Versuch, mein Alter einzuschätzen, oder sammelst du einfach gerne Arschloch-Punkte?«
Jonathan strich sich über die Nase, als ihm die unglückliche Wahl seiner Worte bewusstwurde. »Also, so war das ...«
   »Siebzehn. Ich bin siebzehn«, antwortete Luna salopp. Dann sah sie an sich hinunter. »Und ich fühle mich wohl in solchen Sachen. Okay?« Sie nickte bestätigend. »Bewegungsfreiheit ist wichtig, wenn du viel unterwegs bist.«
   »Okay.« Jonathan legte seine Stirn in Falten, knurrte nachdenklich in sich hinein und glich ihr Erscheinungsbild mit allen Frauen ab, die ihm gerade in den Sinn kamen. Wenn sie wirklich seine Tochter war, musste er die Mutter kennen. Denn er hatte ganz eindeutig so einige Fragen an diese.
   Luna kräuselte ihre dunklen Lippen. »Ich weiß, die Neuigkeit ist der Hammer, oder?«, unterbrach sie die Gedankengänge ihres Dads. »Steht da plötzlich so ein Kind vor deiner Tür. Wo kommt es her? Wo will es hin?«
   »Ja, verrückt trifft es wohl eher«, murmelte Jonathan vor sich hin
   »Echt?« Luna hob einen Mundwinkel. »Das nennst du schon verrückt? Jetzt stell dir mal vor, ich würde dir zusätzlich erzählen, dass ich aus der Zukunft komme. Ich meine, wie verrückt wäre sowas wohl?« Sie hob ihre Augenbrauen und wartete gespannt auf seine Reaktion.
   Jonathan stutzte und lehnte sich gegen seinen Türrahmen. »Zukunft?«
   »Ja, etwa fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Und – ich will ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, aber ich brauch deine Hilfe, um wieder in meine Gegenwart zurückzukommen.«
   »Hahaha! Sehr witzig, vielen Dank.« Mit diesen Worten schlug Jonathan ihr seine Tür vor der Nase zu. Einen winzigen Moment lang hatte er die Möglichkeit einer unbekannten Tochter in Betracht gezogen. Sich sogar, trotz des seltsamen Umstandes, ein wenig darüber gefreut, von ihr zu erfahren. Ein seltsames Gefühl. Doch das Mädchen vor seiner Tür hatte offenbar einfach Spaß daran, anderen Leuten Streiche zu spielen. Vermutlich fand sie sich selbst gerade irrsinnig witzig. Er wusste nicht, wann ihm das letzte Mal etwas so Bescheuertes passiert war – doch! Als der Vertreter einer örtlichen Glaubensgemeinde vor seiner Tür gestanden hatte, ihm von dem einen, wahren Weg erzählen wollte und sogar die Frechheit besaß, seinen Fuß in die Tür zu stellen. Doch ein Kind und das ausgerechnet aus der Zukunft? Das toppte selbst dieses Erlebnis um Längen.
   »Hallo? – Dad? – Echt jetzt?!« Ein wuchtiger Hieb ihrer Dr. Martens ließ das Türblatt erzittern. Luna war klar gewesen, dass Jonathan ihr mit Skepsis begegnen würde, aber dass er ihr gleich wieder die Tür vor der Nase zu schlug, als wäre sie irgend so eine verkackte Irre, verärgerte sie doch sehr. War das dumm von mir, so direkt zu sein? Sie wusste nicht mehr, wie oft ihr Diego gepredigt hatte nachzudenken, bevor sie den Mund aufmachte.
   Doch der Gedanke, wochenlang mit ihrem Dad unter einem Dach zu leben und ihm dieses Detail zu verschweigen, drehte ihr schlicht den Magen um. Er hätte irgendwann Fragen gestellt, wie: Wer ist deine Mutter? Wo lebt sie? Oder schlimmer noch: Kann ich sie sprechen? Luna schüttelte sich. Nein, das ging gar nicht. Lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, war eine Sache, sich dabei aber blöd anzustellen, eine ganz andere. Luna rümpfte die Nase und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Okay –, vielleicht hätte ich mit dem Zeitreiseteil doch warten sollen, bis ich drin bin.« 




Kapitel 2

Neuer Versuch



Luna nahm einen tiefen Atemzug. Der Duft von Bratkartoffeln, Bohnen und Speck lag in der Luft, zwei Stockwerke unter ihr kochte offenbar jemand. Ihre Zunge fuhr wie von selbst über ihre Lippen. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Nicht ablenken lassen! Denk nach! Du musst ihn überzeugen, aber wie?

   Es half alles nichts. Sie stand immer noch vor der verschlossenen Tür und brauchte zuallererst einen Weg, wie sich diese wieder öffnete. Sie fasste den Entschluss, dass Höflichkeit jetzt ausverkauft war. »Was bist du nur für ein Mensch?!«, brüllte sie deutlich hörbar durch das Treppenhaus. »Erst kümmerst du dich nicht um Mum, nachdem du sie einfach so geschwängert hast, und jetzt scherst du dich sogar 'nen Dreck um deine eigene Tochter! Ich will doch einfach nur meinen Dad kennenlernen! – Gut, wie du willst! Ich hab Zeit! Und kann warten!« Es rumste erneut an der Tür, als einer ihrer Stiefel auf das Holz traf und dieses leicht erbebte. »Irgendwann musst du da ja mal rauskommen und dich der unangenehmen Wahrheit stellen!« Das sollte reichen, um die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten.
   Sachte lehnte sie sich vor und lauschte nach einer Reaktion in der Wohnung.

   Plötzlich wurde die Tür ruckartig aufgerissen und Luna machte einen Satz nach hinten.

   »Was willst du Balg von mir? Verschwinde oder ich rufe die Polizei!« Zornig über ihre Hartnäckigkeit hatte Jonathans Blick kaum noch etwas von der vorherigen inneren Ruhe.

   »Echt jetzt, Dad?« Sie kräuselte die Lippen. »So willst du dich vor deiner Verantwortung drücken? Dein eigenes Kind polizeilich abführen lassen, weil's gerade nicht so gut in dein Leben passt?!«, rief sie, den letzten Teil mit erhöhter Lautstärke. »Wow! Anwärter auf den Posten: Vater des Jahres!«
    Jonathan, fest entschlossen der jungen Dame gehörig die Meinung zu geigen, konnte sich gerade noch rechtzeitig zügeln, als sich nur ein Stockwerk tiefer die Wohnungstür von Frau Dierks einen Spaltbreit öffnete. Die kleine, aber liebenswerte Rentnerin von stolzen dreiundachtzig Jahren hatte schon immer ein neugieriges Naturell besessen. So war es nicht verwunderlich, dass sie ihre Nase vorsichtig durch den Spalt ihrer Tür schob, um etwas von dem Schauspiel über ihr zu erhaschen. Ein einziger, provokativer Stampfer von Lunas Stiefel reichte jedoch aus, da erschrak die alte Dame und war schon im nächsten Augenblick wieder hinter ihrer Tür verschwunden. Schlüssel klackerten im Schloss und das typische Rasseln eines Vorhängekettchens erklang.

   Jonathan atmete einmal tief durch und bemühte sich im Anschluss wieder um eine ruhigere Stimmlage. »Ich habe kein Kind. Und schon gar keines aus der Zukunft. Also, was willst du von mir?«

   »Zeit!«, entgegnete Luna, während sie sich der Pflege ihrer Fingernägel widmete. Das war schon fast ein Tick von ihr. Besonders wenn sie unter Menschen war. »Ich will, dass du dir die Zeit nimmst, mir zuzuhören. Mehr verlange ich gar nicht. Was du danach machst, ist deine Sache.«

   Mit einer Hand wischte sich Jonathan über die Nase und schnaubte. »Also gut, wenn das alles ist. Deine Zeit läuft, McFly«, lautete seine mit einem ironischen Unterton belegte Antwort.

   Lunas Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und sie drückte ihre Zunge einen Moment gegen ihre Wange. »Kann es sein, dass du mir nicht glaubst?«

   »Tut mir aufrichtig leid, ich würde ja gerne, aber Zeitreisen? Komm schon?« Sein engstirniger Blick verriet ihr, dass noch ein hartes Stück Arbeit vor ihr lag.

   Luna verschränkte erneut die Arme. Ihr Blick schweifte zum Boden und blieb dort auf den schwarz-weißen Kachelfliesen des Treppenhauses haften. Bis hierhin habe ich es schon geschafft, jetzt muss ich ihn nur davon überzeugen, dass ich die Wahrheit sage. Sollte ich mehr erzählen? Nein, das könnte daneben gehen. Es spielt keine Rolle, was du ihm sagst. Er wird dir nicht glauben!, meldete sich die Stimme in ihrem Kopf. 

   Zeitreisen. Tja, auch für sie waren sie eher ungewöhnlich. Und bis vor Kurzem hatte sie diese ebenfalls nicht für möglich gehalten. Klar, es gab Welten, in denen die Zeit anders, teilweise wesentlich schneller oder deutlich langsamer verlief. Dadurch konnte man durchaus den Eindruck einer Zeitreise gewinnen, aber eine echte Zeitreise? Und dann in die Vergangenheit der eigenen Heimatwelt? Nein, daran hatte sie nicht geglaubt.

   Doch nun stand sie hier, vor einer jungen Version ihres Vaters. Einem Mann, der nicht wusste, was noch vor ihm lag und offenbar genau so gestrickt war, wie sie es in Erinnerung hatte.  

   Luna wusste nicht genau, wie sie hierhergekommen war, nur dass sie einen Weg zurück – in ihre Welt und ihre Zeit – finden musste. Und so albern das klang, ihr zukünftiger Dad war die beste Option, die ihr dazu einfiel. Wenn es gut lief, konnte sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie durfte es nur nicht noch einmal so plump angehen, das war alles. 

   »Also hör zu: Du willst Erklärungen und im besten Fall Beweise. Das versteh ich.« Sie musterte akribisch seinen Gemütszustand. »Alles, was ich dir im Moment sagen kann, ist, dass es auch für mich nicht so leicht zu erklären ist.« 

   »Versuch es«, erwiderte Jonathan. »Wie lauten zum Beispiel die Lottozahlen der nächsten Ziehung?« 

   Luna zog eine fragende Grimasse und hob ratlos ihre Hände in die Höhe. »Woher soll ich das denn wissen? Frag gefälligst was anderes.«

   Ihr Dad war kurz davor, erneut die Tür zu schließen, und dieses Mal, da war sie sicher, würde er sie nicht wieder öffnen. Was immer also nötig war, um ihn zu überzeugen, sie musste es jetzt tun. 

   »Warte!« Sie zog ihren Hoodie ein Stück weit hoch und kramte eifrig in ihrer darunter gut verborgenen braunen Umhängetasche. Die Taschenklappe zierte der Aufdruck einer mechanischen Eule. 

   Jonathan musste schmunzeln. Er hatte auch so eine, erinnerte er sich. Sie lag jedoch schon einige Jahre im Keller, zwischen jeder Menge anderem Krempel, den er seit seiner Jugend aufbewahrte, um gelegentlich in Erinnerungen zu schwelgen. 

   Zwischen einem alten Notizbuch mit blauem Umschlag, ihrem Na-Vi, einem gefühlten Jahresvorrat Lakritzschnecken, ihrer Nagelfeile und dem lange verlorengeglaubten Haargummi, fand Luna schließlich, wonach sie suchte. 

   Eine seltsam anmutende alte Schweißerbrille mit hellen statt dunklen Gläsern kam in ihrer Hand zum Vorschein. Jonathan traute seinen Augen kaum, als er die Brille sah. Er erkannte diesen ganz speziellen, kaleidoskopartigen Schliff der Gläser sofort. Das war eindeutig sein Design. Wie konnte sie davon wissen?

   Luna wedelte mit provokativer Lässigkeit die Sphärenbrille vor ihm hin und her. »Reicht das fürs Erste oder wollen wir gleich hier im Treppenhaus darüber reden, wozu die ist?«

   Wie hypnotisiert betrachtete Jonathan seine Reflexion in den gesprenkelten Facetten der Brillengläser. Er zögerte. »Wie ist das möglich?« Zitternd streckte er seine kräftigen Hände nach der Brille aus.

   Doch bevor Jonathan in die Gelegenheit kam, die Brille zu berühren, verstaute Luna sie wieder in ihrer Tasche und ließ diese erneut unter ihrem Hoodie verschwinden. »Also, was ist jetzt?«

   Jonathan schreckte aus seiner Trance auf. »Was? Klar, klar – komm herein.«

   Das ließ Luna sich nicht zweimal sagen. Sie folgte ihm mit schnellen Schritten, bevor er es sich anders überlegte.

   Als sie die Wohnung betrat, staunte sie nicht schlecht. Der helle, freundliche und moderne Einrichtungsstil der Drei-Zimmer-Dachgeschosswohnung wirkte so harmonisch, wie sie es in Erinnerung hatte. Alles hatte seinen Platz, jedes dekorative Element, jede Pflanze wurde geschickt in Szene gesetzt, ohne dabei zu gewollt auszuschauen. Luna verharrte kurz im Flur und nahm einen tiefen Zug des Sandelholzduftes, der in der Luft lag. Wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin? Sind es wirklich schon zehn Jahre?

   Jonathan bewegte sich vorbei an Schlaf- und Wohnzimmer direkt ins Büro und Luna folgte ihm.

   Er ermahnte sie, hier bloß nichts anzufassen, als sie das geräumige Arbeitszimmer mit Zugang zur Dachterrasse betrat. Das warme Licht der späten Nachmittagssonne strahlte durch die südwestlich ausgerichtete Fensterfront auf die alten Parkettdielen. Geradeaus an der Wand stand ein mit unzähligen Büchern gefülltes Regal. Wenn man genau hinsah, konnte man förmlich spüren, wie es unter der schweren Last ächzte und keuchte. Links daneben befand sich ein gemütlich anmutender Relaxsessel aus braunem Leder, dessen Lehnen schon leicht abgenutzt waren. Jonathan setzte sich an seinen Schreibtisch gegenüber der Fensterfront und begann eifrig nach etwas zu suchen. Der Schreibtisch war der absolute Gegensatz zum Rest der Wohnung. Überall auf ihm lagen lose Zettelwirtschaften, stapelweise Bücher mit Merkzetteln sowie eine Tasse seines mittlerweile kalten Kaffees.

   Luna fand es äußerst amüsant zu sehen, dass ihr Dad schon vor ihrer Geburt so unordentlich gewesen war. Vorsichtig warf sie einen Blick auf die losen Notizen, doch sie konnte nichts Genaues erkennen. Frustriert schmiss sie sich in den alten Relaxsessel, um es sich in diesem gemütlich zu machen.

   Sie erinnerte sich, dass Jonathan hier regelmäßig gesessen und ihr aus Büchern vorgelesen hatte, als sie noch ganz klein war. Und immer, wenn er dachte, dass sie bereits eingeschlafen war, genoss er von hier aus den Anblick der Sterne. Luna schmunzelte. 

   Ihre Augen blieben für einen flüchtigen Moment am Geländer der Terrasse haften. Dort lernst du also eines Tages Mum kennen, dachte sie. Luna seufzte innerlich.

   Sie hatte in den letzten Jahren oft darüber nachgedacht,wie es dazu gekommen war, dass sich ihre Eltern trafen.

   Ihre Mutter war aus ihrer Welt geradewegs auf seine Dachterrasse gestürzt, während Jonathan dort ein Mittagsschläfchen gehalten hatte. Verrückte Sache. Valerie hatte sich gerade auf der Jagd befunden, als es passierte. Jonathan hatte sie anschließend bei sich aufgenommen und sie gesund gepflegt. So war eines zum anderen gekommen, der Rest war Geschichte. 

   »Ich hab's! Hier, sieh mal, kommt dir das bekannt vor?« Jonathan hielt dem Rotschopf euphorisch einige Skizzen in der Erwartung entgegen, dass sie diese in ihre Hand nahm.

   Luna saß da, starrte auf die Papiere und fuhr sich mit dem Ärmel ihres Hoodies über ihre errötete Nasenspitze. »Was? Gerade sagtest du noch, fass hier bloß nichts an.« Kopfschüttelnd griff Luna nach den Zetteln. Sie schmiegte sich tiefer in den Sessel und begutachtete eindringlich einige der technischen Zeichnungen und deren Begleittexte

   Quarzgläser, besondere Schleifweise, Enchroma Effekt, Erweiterung der visuellen Wahrnehmung des menschlichen Sehnervs.

   Die Brille, die auf den Skizzen zu sehen war, sah ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich. Allerdings waren die Gläser dieser Version noch mit einer Vielzahl von Linsen ausgestattet. Eine interessante und vielsagende Erkenntnis, wie sie fand. »Hmm –, that's it? Du glaubst mir wegen 'ner Zeichnung, die meiner Brille ähnlich sieht?«

   Jonathan zögerte einen Moment mit seiner Antwort. »Da ... ich diese erst letzte Nacht angefertigt habe, ja, irgendwie schon.« 

   »Könnte aber auch nur ein dummer Zufall sein«, entgegnete sie trocken

   »Na, in dem Fall, weißt du ja, wo die Tür ist.«

   »Okay, okay – ist vielleicht doch kein Zufall.«

   Tiefe Furchen bildeten sich auf Jonathans Stirn. »Ich weiß noch nicht, ob es das ist. Zu der Zeichnung existiert auch eine Vorlage. Der uninteressante Zwilling zu deiner 23Version könnte man sagen. Hab sie vor einigen Tagen auf einem Flohmarkt entdeckt. Mir gefiel das Retrodesign und ich dachte: Wer weiß, vielleicht ist sie eines Tages mal für etwas gut. Tja, und nun sitz ich hier – neben dir.« Jonathan nahm einen Schluck aus seiner blauen Glückstasse und zog eine angewiderte Grimasse. Er musste nachdenken, er hatte so viele Fragen im Kopf, da könnte es entscheidend sein, die richtigen zu stellen. Aber wo anfangen? »Damit das klar ist, das ist kein Beweis für deine Zeitreisegeschichte. Und auch nicht dafür, dass du meine Tochter bist.«

   »Aber?« Luna erkannte ein Gemisch aus Ablehnung und Neugier in seinen stahlblauen Augen. Er glaubt dir kein Wort! Geh am besten einfach wieder. Du kommst auch wunderbar ohne ihn klar, flüsterte ihre innere Stimme wieder. 

   Jonathan kratzte sich über die Bartstoppeln, seines Kinns. »Weiß ich noch nicht. Es eröffnet Möglichkeiten, würde ich behaupten.«

   »Was für welche?«

   Jonathan zögerte. »Also gut. Du musst wissen«, holte er aus, »ich arbeite seit geraumer Zeit an einer Theorie. Es ist nur so ein Gedanke, eine fixe Idee, aber sie lässt mich nicht mehr los. Und jetzt – jetzt sitzt du hier, das ist – das ist ...«

   »Ich weiß«, unterbrach Luna ihn, während sie eifrig damit beschäftigt war, gegen eine ihrer widerspenstigen Locken zu kämpfen, die ihr immer wieder ins Gesicht fiel –egal, wie oft sie diese wegpustete. Es war die eine schneeweiße Strähne innerhalb ihrer wilden, roten Lockenmähne, die sie ohnehin nicht ausstehen konnte. Luna griff nach dieser, zog sie lang vors Gesicht und schielte die Strähne finster an.

   »Und du sagst, du weißt, wozu die Brille gedacht ist?«, hakte Jonathan nach. 

   »Sure. Du benutzt sie eines Tages, um Raumanomalien zu erkennen. Von denen es ganz nebenbei bemerkt jede Menge gibt.«

   Jonathan lehnte sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls und packte sich an die Brust. Sein Herz pochte voller Unbehagen. Er konnte nicht glauben, was sie ihm da erzählte und konzentrierte sich, um gegen die aufkeimende Übelkeit anzukämpfen. »Okay – also, wie hast du es gemacht? Die Zeitreise meine ich?«

   Lunas bernsteinfarbene Augen wurden riesig. »Du glaubst mir also, dass ich aus der Zukunft komme?«

   »Nein. Ich würde jedoch gerne wissen, was dich glauben lässt, dass es eine Zeitreise war, die du erlebt hast. Ich meine, dein DeLorean steht ja sicher nicht gleich an der nächsten Straßenecke, oder?«

   »Doch, eigentlich schon. Und ich brauche dich, um den Blitz einzufangen, der in die Rathaus Uhr einschlägt, damit ich wieder nach Hause komme.«

Er wurde augenblicklich still. Starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und wartete darauf, dass sie noch etwas Ergänzendes sagte. Ihm antwortete jedoch nur eine Unschuldsmiene und Stille.

   »Just kidding«, antwortete Luna nach einigen Sekunden belustigt.

   »Verstehe, du bist ein kleiner Scherzkeks.«

   »Erzählt man sich so.«

   Schön zu wissen, dass sie Humor besitzt, doch das hift mir nicht weiter, dachte Jonathan. Die Nase rümpfend schwenkte er unaufhörlich den Inhalt seiner Tasse hin und her. Keep Calm and Dream Big stand in großen, weißen Lettern auf blauem Porzellan.

   Luna erkannte das markante Design.

   Ihr Dad hatte diese Tasse von ihrer Oma geschenkt bekommen, kurz bevor sie gestorben war. Seitdem trank er nur noch daraus seinen Kaffee.

   »Ich sag dir was«, meinte Luna und schlug sich auf die Oberschenkel, »Lass mich das Chaos auf deinem Schreibtisch ansehen. Danach entscheide ich, was ich dir erzähle. Deal?«

   Er musste kurz über ihre Frechheit auflachen. »Warum sollte ich das tun?«

   »Was ist die Alternative? Dir ungefiltert alles zu erzählen? Ich bin ja keine Expertin, doch ich ahne, dass das für uns beide eher ungünstig wäre.«

   »Du denkst an Kontinuität. Das ist zwar clever, aber ich kann nur wiederholen: Wie sicher bist du, dass es wirklich eine Zeitreise war, die du gemacht hast?«

   »Einhundert Prozent. Wenn du mich einen Blick auf deine Arbeit werfen lässt, werde ich auch wissen, wie ich dir was erzählen kann, ohne dass du einen Herzkasper bekommst.«

   Jonathans Blick verharrte auf ihrer unschuldig wirkenden Miene. »Weißt du, du könntest mich auch einfach fragen.«

   »Du könntest mir auch einfach einen vom Pferd erzählen«, konterte sie trocken.

   Jonathan hob einen Mundwinkel und schnaubte lässig. »Touché. Dann haben wir wohl eine Pattsituation.« 

   Luna beobachtete, wie ihr Dad da saß, die Faust knapp unters Kinn geführt, der Daumen auf seinem Mund ruhend, und grübelte. Er wird dir sowieso nicht glauben. Was verschwendest du deine Zeit? Schlag ihn k.o. nimm dir die Unterlagen und verschwinde! Ihre Gliedmaßen versteiften sich. Du hältst jetzt deine Klappe!, wies sie ihre innere Stimme an.

Ein langer und tiefer Atemzug durchströmte Jonathans Lungen.

   Eine Tochter aus der Zukunft? Nein. Wenn überhaupt etwas von dem wahr war, was sie erzählte, kam sie ganz wo anders her. Aber das wäre fast genauso verrückt. Und würde bedeuten, dass er mit seiner Theorie richtig läge.

   Jonathan schaute sie noch einen Moment an. »In Ordnung.« Er stand auf und deutete ihr, hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Ich mache mir einen frischen Kaffee. Magst du auch einen haben?« Er glaubte zwar nicht daran, dass sie seine Tochter war oder aus der Zukunft stammte, doch etwas passierte hier und seine Neugier wollte wissen, was das war. Was, wenn er mit seiner Vermutung, dass sie aus einer anderen Welt stammte, recht hatte? Das wäre bahnbrechend, wenn auch – beängstigend.

   »Nein, danke. Für mich nur ein Wasser bitte«, nuschelte Luna gedankenversunken, ohne dabei auch nur eine Sekunde zu ihm aufzublicken. Sie saß nicht einmal richtig auf dem Schreibtischstuhl, da fing sie schon an, eine Art Ordnung und Chronologie in sein Chaos zu bringen. Sie hatte zwar Übung darin, sein Kauderwelsch zu deuten, musste aber zugeben, dass es selbst ihr nicht leichtfiel, etwas davon zu verstehen.

   Großvaterparadoxon, »A smooth exit from eternal inflation« von S.W. Hawking und Thomas Hertog, »Missing 411« von David Paulides, »The hidden Reality« von Brain Green, zirkuläre statt lineare Zeitlinien, alte Götter und Sternen Tore – Zusammenhänge mit paranormalen Vorgängen und Sichtungen kryptozoologischer Wesen – aha, – okay, – so weit so gut. 

   Schranktüren klapperten, Glas traf auf Holz und während die Kaffeemaschine gegen die Bohnen kämpfte, füllte Jonathan ein großes Glas mit frischem Wasser. Er stellte es nur wenige Augenblicke später neben ihr auf dem Schreibtisch ab. An seinem Kaffee nippend, verharrte er hinter ihr und sondierte sein Bücherregal. 

   Luna ergriff das Glas, um es in beinahe einem Zug zu leeren. »Danke«, keuchte sie, als sie das Glas wieder absetzte. »Du bist übrigens ziemlich leichtsinnig, weißt du das?«, raunte sie überlegen und nahm mit verwunderten Blicken die nächste Notiz zur Hand.

   Jonathan verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Was soll das jetzt wieder heißen?«, hüstelte er und reichte ihr drei weitere Bücher aus dem Regal, von denen er meinte, dass sie sie brauchen könnte.

   Luna runzelte die Stirn. »Ich könnte sonst wer sein, dich k.o. schlagen und ausrauben.«

   Er stockte für einen flüchtigen Moment. »Hast du denn vor mich auszurauben?«

   Luna prustete missmutig und nahm die Bücher entgegen. »Nein. Aber dein Maß an Naivität ist erschreckend hoch. Du solltest nicht direkt jeder fremden Seele trauen, der du über den Weg läufst, nur weil Argumente existieren, die dafür sprechen, dass schon alles seine Richtigkeit hat.« 

   »Na, wenn das so ist.« Die Aufmerksamkeit seiner stahlblauen Augen verharrte auf ihrem Hoodie. »Die Tasche. Gib mir die Tasche als Pfand und wir kommen klar.«

   Lunas Kopf schreckte hoch. Wenn er die Tasche in seine Finger bekommt, wird er das Buch finden. Wie erklärst du ihm das?, meldete sich die gehässige Stimme in ihrem Kopf.

   Nur einen Moment später zierte stille Rebellion ihr feines Gesicht. Sie drehte sich allmählich samt dem Stuhl um, beugte sich vor und sicherte mit einer Handbewegung den Bereich, an dem die Tasche unter ihrem Hoodie verborgen lag. »Hallo? Ich bin doch deine Tochter. Keine Fremde.«

   »Zumindest behauptest du das.«

   Luna sah ihn mit aufgesetztem Entsetzen an. »Traust du mir etwa nicht?«

   Jonathan schaute vorwurfsvoll und schwieg. 

   Luna kniff angriffslustig ihre Augen zusammen. »Ist ja schon gut. Du bekommst die Brille und kannst sie untersuchen, solange du willst. Ich gehe sogar 'nen Schritt weiter. Meinetwegen kannst du damit auch zum Optiker deines Vertrauens rennen und 'ne Kopie davon anfertigen lassen. Ist mir egal, aber die Tasche bekommst du nicht.« 

   Jonathan leerte seine Kaffeetasse in einem Zug und stellte diese auf den Beistelltisch des Sessels ab, ohne das Mädchen mit der geröteten Nase aus seinen Augen zu verlieren. »Ich würde ungern handgreiflich werden wollen.«

   »Und ich dir ungern die Nase brechen«, erwiderte Luna kühl. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute anvisierte, folgte ihr Blick jeder seiner Bewegungen. Ein Detail, das Jonathan keinesfalls entging.

   »Das würdest du also tun, ja?« Jonathan schnalzte abwägend. Ihm missfiel die plötzliche Anspannung dieses Dialogs.

   Sie legte den Kopf schief, schnaubte und ließ sie den Stuhl sachte nach links und rechts schwenken. »Du hast keine Vorstellung davon, was ich alles bereit bin zu tun, wenn ich ein Ziel habe.«

   »Verstehe. Sehr ambitioniert für dein Alter.« Jonathan zögerte. Er hatte geblufft, als er andeutete, handgreiflich werden zu wollen. Bei seiner Statur zog so ein Bluff oft genug, sodass es nur selten zu einer echten Auseinandersetzung mit jemandem kam. Ein Umstand, über den er froh war, da er Gewalt für das Mittel der Schwachen hielt. »Gut. Ich nehm die Brille – und für einen späteren Zeitpunkt das Angebot mit der Kopie.«

   »Deal.«




Kapitel 3

Ermittlungen



 

Plymouth, England:

   Der kleine, beschauliche Hafen des wenig bekannten Fischerdorfes in der Nähe von Devonport hatte nicht viel zu bieten. Die Stege waren morsch und überall stank es nach Algen und Fischinnereien. Einzig eine kleine Kneipe mit dem Namen The Sturmey Archer gab es neben einer noch kleineren Hütte, in welcher der fangfrische Fisch zum Weiterverkauf an Touristen und Einheimische angeboten wurde.

   Es war Nacht und seichter Nieselregen benetzte das aufgedunsene, blasse Gesicht eines korpulenten Mannes im klassischen, schwarzen Anzug, nebst cremefarbenem Hemd, passender Krawatte und Melone. Er blickte durch seine Sonnenbrille zum Nachthimmel hinauf und nahm einen tiefen Atemzug. Er stand vor der stählernen Tür zum Steuerhaus eines kleinen Fischkutters mit dem Namen Old Faithfull und wartete. Seine Hände steckten in den Taschen seiner Hose, um die roten Pusteln auf seiner Haut zu verstecken und sich vom Kratzen abzuhalten. 

   Dürre Finger, einer ebenso dürren Hand schnippten vor seinem Gesicht.

   »Mister Preston, konzentrieren Sie sich!«, erhob sich die Stimme der zweiten, hageren Gestalt, die neben Mister Preston stand. Der Mann war etwas mehr als zwei Köpfe größer als Mister Preston und trug einen identischen Anzug. Sein fahles Gesicht zeichnete tiefe Furchen und ausgezehrte Wangen. Auch er war beinahe schon leichenblass.

   Der korpulente Mister Preston räusperte sich und hielt sich den Magen, als hätte er Sodbrennen. »Ich bitte um Verzeihung, Mister Grimm. Die Gischt und die See versetzen mich immer in Erinnerungen an die Heimat. Das lässt mich hin und wieder sentimental werden.« 

   Mister Grimm blickte Mister Preston regungslos an. »Verstehe. Wie lange ist es her, dass Sie dort waren?«

   »Etwa zehn Jahre und bei Ihnen?«

   »Etwas mehr. Wollen wir dann?« Mister Grimm drehte sich zur Tür und klopfte mit überraschend kräftigen Hieben gegen den Stahl. 

   Bomm, bomm – , bomm, bomm.

   Wenige Augenblicke später drehte sich der äußere Riegel und die Tür öffnete sich. Ein blonder, bärtiger Mann Ende vierzig stand im dunkelblauen Rollkragenpullover und gelber Gummistiefelhose in der Tür und starrte die beiden Männer im Anzug fragend an.

   Mister Grimm erhob seine ruhige, aber dominante Stimme. »Mister Dunn? Mister Kelvin Dunn?«

   Der Mann in der Tür zögerte. »J-ja? Wie kann ich helfen?«

   Mister Grimm hob seine Mundwinkel mit künstlicher Freundlichkeit, griff in sein Jackett und holte einen Ausweis hervor. »Ich bin Mister Grimm, der korpulente Herr zu meiner Rechten ist Mister Preston. Wir sind vom Grenzschutz und haben ein paar Fragen an Sie. Hätten Sie daher kurz Zeit?« 

   Mister Dunn runzelte die Stirn, sah den Ausweis an und nickte. »Klar. Kommen Sie ruhig rein. Hier ist es wenigstens trocken.« Er ließ die beiden eintreten, schloss die Tür hinter sich und setzte sich wieder auf seinen Kapitänsstuhl. Kelvin ergriff sein Glas Scotch von der blinkenden Steuerarmatur vor ihm und schaltete den kleinen, braunen Reisefernseher aus. »Was hat einer meiner Männer diesmal angestellt? Wieder mal Schmuggel?«

   Mister Preston und Mister Grimm sahen sich schweigend an und wandten sich synchron Mister Dunn zu.

   »Weiter Weg von Puerto Rico nach Plymouth, finden sie nicht? Vor allem für so ein kleines Schiff wie Ihres«, fragte Mister Grimm herausfordernd.

Dunn nippte an seinem Scotch. »Und? Ich bin hier aufgewachsen. Kommt hin und wieder vor, dass wir hier ankern.«

   Mister Prestons Miene verhärtete sich unter den großen Gläsern seiner dunklen Sonnenbrille. »Sie waren das letzte Mal vor über einem Jahr hier! Das ist wohl kaum die Definition von hin und wieder?!«, knirschte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. 

   »Was mein Kollege sagen will, ist, dass wir es äußerst seltsam finden, dass Sie ausgerechnet jetzt hier vor Anker gegangen sind«, unterbrach ihn Mister Grimm. »Und wir fragen uns, ob das einen bestimmten Grund hatte.«

   Mister Dunn zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Wie wäre es, wenn Sie mir einfach sagen, was Sie suchen? Dann kann ich vielleicht behilflich sein.«

   Mister Grimm hob künstlich eine Mundfalte. »Nett, dass Sie fragen. Wir suchen nach einer illegalen Einwanderin. Etwa ein Meter sechzig, bis ein Meter siebzig groß, zierliche Gestalt, rot-weiß gescheckte Locken. Haben Sie so jemanden zufällig in letzter Zeit gesehen, Mister Dunn?« 

   Mister Dunn grunzte abfällig und goss sich ein weiteres Glas ein. »So ist das also. Ja, Paddency Lederer. Sie hat in Puerto Rico auf meinem Schiff angeheuert. Wollte kein Geld, nur eine Überfahrt nach Europa. Das passte, da ich gerade eine Tour hierher geplant hatte.«

   »Welch ein glücklicher Zufall«, bemerkte Mister Grimm zynisch. »Mister Dunn, hat sie Ihnen zufällig ein Dokument vorgelegt, das ihre Identität bestätigt? Einen Ausweis, vielleicht?« 

   Dunn stockte. »N-nein. Aber so genau überprüft man in unserem Gewerbe auch niemanden. Nicht immer zumindest. Was hat sie denn angestellt?«

   Mister Preston trat einen Schritt näher an Dunn heran. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Mädchen einfach auf Ihrem Schiff arbeiten ließen, in der Annahme, dass schon alles okay ist?!«, knurrte Preston.

   Mister Grimm hob wortlos eine Hand und zwang Mister Preston damit erneut zur Ruhe. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Hatten Sie keinerlei Zweifel an ihrer Identität oder ihren Beweggründen ausgerechnet, auf Ihrem Schiff anzuheuern?«

   Dunn erhob erneut sein Glas. »Zugegeben, ich war etwas skeptisch, ja. So ein junges Ding unter einer Gruppe alter Seebären – pfft! Das kann auch schnell mal schiefgehen, wenn sie verstehen, was ich meine. Aber Mann! Konnte die anpacken! Die Kleine hat so manch einen Matrosen ganz schön alt aussehen lassen, sage ich Ihnen.« Dunn blickte aus dem Fenster in die verregnete Nacht. »Jederzeit würde ich die Kleine wieder auf mein Schiff lassen.«

   »Sicher doch«, erwiderte Mister Grimm gleichgültig. »Hat sie zufällig gesagt, weshalb sie so dringend nach Europa wollte? Hatte sie ein Ziel genannt?«

   Dunn runzelte die Stirn. »Natürlich. Sie war ein quirliger, kontaktfreudiger Sonnenschein. Hat allen von den fantastischen Abenteuern rund um ihren Vater erzählt. Ein bisschen wie Pipi Langstrumpf, nur rauer und weniger kinderfreundlich.« Dunn lächelte. »Kennen sie Pipi Langstrumpf?«

   Mister Grimm verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und zwang sich zu einer freundlichen Miene. »Tut mir leid, leider nein. Was hat sie noch gesagt?«

   Dunn kniff ein Auge zu und betrachtete die beiden Gestalten, wie sie einfach nur dastanden und sich kaum rührten. Er schüttelte den Kopf und stellte sein leeres Glas ab. »Allen Anschein nach ist ihr Vater eine echte Legende unter irgendwelchen Wanderern. Ich wusste nicht einmal, dass es unter denen sowas gibt. Die spazieren doch nur so herum. Na ja, so richtig verstanden habe ich das eh alles nicht. Sie hat wohl auf einer ihrer Wandertouren einen Fehler gemacht und muss jetzt ihren Vater, Jonathan, besuchen, um das wieder geradezubiegen. Irgendwie sowas.«

   Mister Grimm horchte auf. »Und sie hat Wanderer gesagt? Interessant.« Er schenkte Mister Preston einen flüchtigen Blick, dieser schüttelte seinen aufgedunsenen Kopf kaum merklich. »Mister Dunn? Erzählen Sie ruhig weiter. Alles, was Sie uns sagen, hilft uns.«

   Kelvins Miene verfinsterte sich und er goss sich erneut einen Tropfen Brandy ein. »Was wollen Sie denn noch alles wissen?«, murrte er.

   »Am liebsten alles, Mister Dunn«, erwiderte Mister Grimm steif. »Hat sie erwähnt, woher sie kommt? Wo sie vor Bolivien war? Weshalb sie glaubt, dass dieser Jonathan ihr helfen kann? Wo dieser Jonathan lebt? Verstehen Sie, Mister Dunn? Alles, woran Sie sich erinnern können, hilft uns bei unserer Arbeit.«

   Dunn lehnte sich in seinen Stuhl zurück und warf einen flüchtigen Blick auf das Schiffsradar. »Das sind ganz schön viele Fragen. Woher sie genau kam, kann ich wirklich nicht sagen, aber wo ihr Vater lebt schon. In Deutschland. Berlin, um genau zu sein.« 

   Mister Prestons Wangen liefen rot an. »Wo genau?! Berlin ist nicht gerade ein menschenleeres Kaff, wie dieses Nest hier!«

   Dunn kratzte sich am Hinterkopf. »Lassen Sie mich überlegen. Sie erzählte etwas von einem Park, direkt vor dem Haus ihres Vaters. Sie ist dort als Kind wohl gerne spielen gewesen. L... irgendwas mit L. Es tut mir leid, ich würde gern mehr für Sie tun, aber ich komme nicht mehr drauf.«

   Gelbe, große und perfekt sitzende Zähne traten aus Mister Grimms Mund hervor, als er lächelte. »Macht nichts, Sie haben uns bereits sehr geholfen, Mister Dunn. Vielen Dank für Ihre Kooperation. Sagen Sie, Ihre Mannschaft befindet sich nicht zufällig ebenfalls an Bord?«

   Mister Dunn schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen aus dem Fenster zur schummrig beleuchteten Hafenkneipe. »Die sind alle im Sturmey Archer und lassen sich ordentlich volllaufen.«

   Mister Grimm nickte. »Vielen lieben Dank, Mister Dunn. Mister Preston, würden Sie bitte?«

   Mister Prestons Miene verzog sich zu einem unheilvollen Grinsen. »Aber mit dem größten Vergnügen.« Seine mit Pusteln bedeckte Hand packte mit einem kräftigen Ruck die Schulter von Mister Dunn. Dieser schrie auf, wand und krümmte sich vor Schmerzen. Er schlug und trat um sich und versuchte, mit aller Kraft, die Hand auf seiner Schulter loszuwerden. Dunn packte das Scotchglas, zerschmetterte es in einem Akt der Verzweiflung an Mister Prestons Kopf und schlug ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Blankes Entsetzen breitete sich in Kelvins Miene aus. Dort, wo Augen sein sollten, waren nur leere Hüllen – und Zähne.

   Die Gegenwehr verstummte und Kelvins lebloser Kopf rollte auf die Brust. Wenige Augenblicke später ließ Mister Preston von dem mumifizierten Leichnam Dunns ab. Die Pusteln auf seiner Haut bildeten sich zurück und sein Gesicht wirkte deutlich vitaler und straffer als es noch vor einer Minute der Fall war.

   Mister Grimm versenkte seine Hände in die Hosentaschen. »Hat es geschmeckt?«

   Mister Preston rülpste ungeniert und rieb sich die Handfläche mit dem winzigen Maul voller spitzer Zähne in dessen Mitte. »Hatte schon bessere. Haben Sie sein entsetztes Gesicht gesehen?« Mister Preston kicherte.

   Grimm verzog indes keine Miene. »Ja! Das habe ich wohl. Warum tragen Sie keine Prothesen, wie es laut Protokoll vorgesehen ist?«

»Rmmm! Ich hatte mal welche, keine Ahnung, wo ich sie verlegt habe. Fackeln wir das Schiff ab?« 

   »Nein. Erst genehmigen wir uns noch ein paar Drinks in der örtlichen Kneipe und schauen, was die Mannschaft von Mister Dunn zu dem Fall sagen kann. Danach wird es eine bedauerliche Explosion am Hafen geben und selbstverständlich keine Überlebenden.«

   Mister Preston grinste dreckig, setzte sich seine Sonnenbrille wieder auf und beide verließen das Schiff. 

 

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